Workshop: Dissoziation – psychosoziale Kompetenz zur Bewältigung von Entfremdung und Unverfügbarkeit?

8.4.2021

Workshop mit Prof. Dr. Hartmut Rosa (Jena/Erfurt) und Dr. phil. Anita Horn (St.Gallen)

Universität St.Gallen, School for Economics and Political Science (SEPS), Müller- Friedbergstrasse 6/8, CH-9000 St.Gallen

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    In wesentlichen Aspekten ist unsere unmittelbare Lebenspraxis dekontextualisierter geworden. Für den Einkauf, den Wissenserwerb in der Schule, in der Krankenpflege oder für den sozialen Austausch existieren technische oder virtuelle Alternativen. Die körperliche Anwesenheit, Begegnungen von Angesicht zu Angesicht sind dank Internet und Künstlicher Intelligenz (AI) in vielen Fällen nicht mehr notwendig zur basalen Lebensbewältigung. Durch die breite Auswahl von Optionen im Netz können wir bei sozialen Konflikten, aber auch aus Bequemlichkeit oder Effizienzgründen per Mausklick auf virtuell verfügbare Alternativen ausweichen. Ist damit die Dissoziation zur neuen Daseinsform geworden?1 – «Dissoziation» fasst ein Spektrum psychischer Mechanismen und Fähigkeiten zusammen, welche von «normal» bis pathologisch reichen. Das menschliche Gehirn wird durch Selektion und Verallgemeinerung leistungsfähig2, Gruppen formieren sich über Identifikationen mit Zielen oder Werten, welche andere Ziele und Werte ausblenden. Bereits diese alltäglichen individuellen und kollektiven Mechanismen basieren auf der Fähigkeit zur Dissoziation, zur gezielten Auswahl und Verdrängung von Information. – Die digitalisierten Lebensbedingungen wirken sich auf Identität, Gedächtnis und Bewusstsein aus. Wenn die psychische Integration dieser Bereiche gestört ist, spricht man von einer pathologischen Dissoziation. – Der Workshop dient dazu, Funktion und Bedeutung von Dissoziationen für die Psychodynamik, Sozialpathologien, insbesondere aber auch für die kritische Sozialphilosophie zu diskutieren.

     

    Gegenwärtige Entfremdungsanalysen richten sich auf die Veränderung der Beziehungskultur und Beziehungsfähigkeit aus, welche durch gesellschaftliche und ökonomische Entwicklungen befördert werden. Unter den Stichworten der Selbstoptimierung, der Beschleunigung oder Flexibilisierung werden individuelle und kollektive Verhaltensanpassungen thematisiert, welche Freiheiten und Entwicklungsmöglichkeiten auf eine dysfunktionale Weise einschränken. Jaeggi definiert Entfremdung als «Beziehung der Beziehungslosigkeit», Rosa sieht in der Unfähigkeit, mit Unverfügbarkeit umzugehen, den Ursprung eines aggressiven, Resonanz und Beziehung verunmöglichenden Modus der Weltbeziehung, der durch Unverbundenheit, Überregulierung und individuelle Überanpassung an die kollektiven Dynamiken gekennzeichnet ist. Zur Bewältigung der subjektiven Überforderung, die sich angesichts beschleunigter und technisch komplexer gesellschaftlicher Abläufe anbahnt, sind dissoziative Copingstrategien zunehmend gefragt. Als psychischer und kollektiver Bewältigungsmechanismus spielt die Dissoziationsfähigkeit im Zusammenhang mit Entfremdungserfahrungen eine fundamentale und unterschätzte Rolle.

     

    Der Begriff Dissoziation fristet in der Philosophie eine kümmerliche Existenz. Im historischen Wörterbuch der Philosophie ist er als blosser Referenzbegriff für die Disziplinen Physik oder Psychologie genannt. 3 Fruchtbar gemacht wurde er hingegen für die Argumentationstheorie4, als rhetorische Technik, welche mitunter bereits die platonischen Dialoge prägt. Entgegen der minimalen philosophischen Beachtung stehen Dissoziationen als psychischer Mechanismus und Fähigkeit in der Psychologie und Psychopathologie im Zentrum der Aufmerksamkeit. Als Bewusstseinsphänomene und Symptome sind sie entscheidend für die Diagnostik psychischer Störungen. Seit Beginn der Psychoanalyse, insbesondere jedoch mit dem Boom der Psychotraumatologie seit den 1980er Jahren sind Dissoziationen Gegenstand differenzierterer psychologischer und neurowissenschaftlicher Studien. Diese zeigen, dass Dissoziationen nicht grundsätzlich pathologisch sind, sondern dass diese auch im gesunden Zustand als psychosoziale Fähigkeit dazu dienen, die Funktionalität der Psyche zu erhalten. Können Dissoziationen als Kriterien für die sozialphilosophische Analyse – insbesondere für die Einschätzung von sozialpathologischer Entfremdung – fruchtbar gemacht werden? – Mindestens zwei Einwände verhindern bisher den Einschluss von «Dissoziationen» als Kriterium für sozialphilosophische Analysen. Einerseits ist der Begriff der Dissoziation durch seine Verbindung mit der Psychopathologie vorbelastet. Weil er assoziiert ist mit Diagnosen wie der «Dissoziativen Identitätsstörung» (vormals multipler Persönlichkeit) besteht eine Scheu, den Begriff Dissoziation zu normalisieren oder in die sozialkritische Denke zu übertragen. Inhaltlich erschwert wird die Anwendung eines breiteren Dissoziationsbegriffs andererseits durch die hohe Komplexität des Phänomens. Ob eine Dissoziation pathologisch oder funktional ist, lässt sich oftmals nur im individuellen Kontext abschätzen. Wenn Dissoziationen als Kriterium nutzbar gemacht werden sollen, ob es sich bei individuellen oder kollektiven Phänomenen um funktionale oder sozialpathologische Dynamiken handelt, dann setzt dies repräsentative Dissoziationskategorien und umfassende Fallstudien voraus.

     

    Wir laden Sie ein zum Austausch von Ideen und Beiträgen zum Thema Dissoziation und Entfremdung.

    Die Veranstaltung wird durch einen öffentlichen Vortrag von Hartmut Rosa am Donnerstagabend (08. April) eröffnet. Der eintägige Workshop am Freitag, den 09. April, bietet Doktorierenden und Postdoktorierenden der Philosophie die Gelegenheit, eigene Beiträge und Fragen an die Forscher zu richten. Beiträge aus anderen geistes- oder sozialwissenschaftlichen Disziplinen, die sich spezifisch mit den Begriffen der Dissoziation oder Sozialpathologien auseinandersetzen, können ebenfalls berücksichtigt werden. Die Online-Teilnahme ist möglich.

    Ziel des Workshops ist eine hermeneutisch-kritische Diskussion der Bedeutung, welche der Mechanismus der Dissoziation in unserer Gesellschaft, auf Subjektebene und auf der Ebene kollektiver Dynamiken spielt. Besonders erwünscht sind Beiträge, die sich im Rückgriff auf den gegenwärtigen Entfremdungsdiskurs der Kritischen Theorie an die Fragestellung heranwagen, ob und inwiefern Dissoziation als Kriterium für die Bestimmung von Sozialpathologien geeignet ist.

    Für jeden Beitrag sind 20 Min. Vortrag und 25 Min. Diskussion eingeplant. Die Beiträge sollen zehn Tage vor Beginn des Workshops an die Organisatoren verschickt werden, die sie dann allen Teilnehmenden zugänglich machen.

    Submission:
    Umfang Abstracts: 300–500 Wörter (deutsch oder englisch)
    Deadline für die Einreichung der Abstracts: 01.12.2020
    Bescheid über die Zusage: 10.01.2021
    Umfang Paper: 8’000–10’000 Wörter
    Deadline Paper: 25.03.2021
    E-Mail: anita.horn@unisg.ch