18:00 Uhr
Ein Mann taucht im Türrahmen auf. Ein Knabe rennt zu ihm. Der Knabe ist fast nackt. Er trägt nur ein Tuch um seine Hüften. Er führt den Neuankömmling, der Sandalen und ein beiges Gewand trägt, in die Mitte des Raumes. Darin stehen vier Sofas, im Halbkreis angeordnet. Vor jedem Sofa steht ein niedriger Tisch. Mehrere Amphoren, Mischkrüge und einige Schüsseln mit Früchten stehen auf den Tischchen.
Auf jedem der Sofas liegt ein Mann. Der Mann auf dem Sofa ganz links trägt eine Tunika aus schwerem Stoff. Eine Gewandnadel hält den Stoff über seiner linken Schulter zusammen. Sein Nachbar vom Sofa rechts daneben trinkt, auf seinen Ellenbogen gestützt, Wein aus einem Becher. Seine Tunika ist purpurfarben.
Der Mann mit der Gewandnadel wendet sich dem Neuankömmling zu. “Mein lieber Aristodemos, du kommst genau richtig, um am Mahl teilzunehmen. Aber wie kommt es, dass du uns Sokrates nicht mitbringst, dem du doch sonst auf Schritt und Tritt folgst?”
Der Neuankömmling in Sandalen, der mit „Aristodemos“ angesprochen wurde, kratzt sich am Hinterkopf. "Agathon, tatsächlich bin ich mit Sokrates gekommen, weil jener mich eingeladen hatte. Eben war er noch auf dem Weg hinter mir und ich staune selbst, wo er wohl bleibt.”
Der Mann auf dem Sofa links lächelt. “Dann leg dich Aristodemos hier neben Eryximachos.” Der Mann, der eben „Agathon“ genannt wurde, zeigt auf das Sofa rechts aussen. Dann dreht er sich um und wendet sich dem Knaben mit dem Tuch um die Hüften zu. "Sklave! Willst du nicht nachschauen und Sokrates hineinführen!" Wortlos verschwindet der Knabe durch die Tür.
Ein anderer Knabe – auch er ist fast nackt – kniet sich vor den Neuankömmling Aristodemos und wäscht ihm die Füsse. Als dieser sich dann auf das Liegesofa rechts aussen legt, rutscht sein Liegenachbar an den Rand. Sein runder Bauch ragt jetzt über die Sofakante.
Drei leichtbekleidete Frauen betreten den Raum. Sie tragen Platten mit Brot, Schüsseln mit Bohnen und Krüge mit Wein und stellen diese auf den Tischchen ab. Dann trägt eine weitere leichtbekleidete Frau einen flachen Teller in den Raum. Auf dem Teller liegt Käse. Die Frau beugt sie sich über das Tischchen vor dem Sofa ganz rechts. Der Teller hat den Tisch noch nicht berührt, da nimmt sich der Mann neben Aristodemos ein Stück Käse.
Ein Mann mit einem weissen Bart und einer Halbglatze betritt den Raum. “Hierher Sokrates”, ruft Agathon. “Leg dich zu mir, damit auch ich, wenn ich dich berühre, Nutzen aus dem klugen Gedanken ziehen kann, der dir auf dem Wege gekommen ist”.
“Wenn es sich so mit der Weisheit verhält, Agathon. So schätze ich es sehr hoch ein, neben dir zu liegen”, antwortet „Sokrates“ und geht zum Sofa ganz links. “Denn ich glaube, dass ich von dir mit viel schöner Weisheit angefüllt würde. Die Meine ist doch recht mickrig oder sogar zweifelhaft. Deine aber ist glänzend”. Sokrates trägt einen weissen Stoff um die Hüften und über die linke Schulter. Ein Grossteil seines nackten Oberkörpers ist sichtbar. Er legt sich neben Agathon und nimmt sich eine Traube. Agathon greift zum Brot. Auch der Mann auf dem Sofa neben den beiden greift in eine Schüssel, isst ein paar Bohnen und nippt dann an seinem Wein. Käse, Gemüse und Brot verschwinden von den Platten. Irgendwann liegt nur noch Käserinde da. Die leichtbekleideten Frauen kommen und räumen die Tische ab.
Aristodemos räkelt und streckt sich, als eine junge Frau mit Doppelflöte in der Hand den Raum betritt. Sie stellt sich mit geradem Rücken in die Mitte der Sofas und hebt dann die Flöte an. Eine Melodie ertönt. Der Mann neben Aristodemos, der mit dem runden Bauch, holt tief Luft. “Wir wollen das heutige Treffen durch Gespräche miteinander gestalten. Und durch welche, das möchte ich euch vorschlagen.”
Noch während der Mann spricht, bricht die Melodie ab. Die Frau senkt die Flöte. “Noch kein Mensch bis auf den heutigen Tag, hat es gewagt, den Eros würdig zu besingen.” Die Frau mit der Flöte steht mit gesenktem Kopf da und rührt sich nicht. “Wenn auch ihr dieser Meinung seid, hätten wir wohl genügend Gesprächsstoff für unsere Unterhaltung.”
Agathon zischt der Frau mit der Flöte unverständlich etwas zu. Sie nickt und verlässt den Raum. Der Mann mit dem grossen Bauch erhebt seinen Weinkelch und setzt seine Ansprache fort: “Denn meiner Meinung nach sollte ein Jeder von uns eine Lobrede auf Eros halten. So schön er es vermag. Phaidros, mein Lieber, Du solltest anfangen!“ Der Mann in der purpurnen Tunika klatscht in die Hände. Die anderen Männer nicken.
„Phaidros“ erhebt sich vom Sofa und stellt sich in die Mitte des Halbkreises. Die anderen Männer wenden sich ihm zu, als er zu sprechen beginnt. Abgesehen vom Glucksen des Weines, den ein Knabe gerade in den Kelch vor Sokrates schenkt, ist nur Phaidros’ Stimme zu hören. “Denn göttlicher ist der Liebhaber als der Geliebte, weil in ihm der Gott Eros ist…”
Der Mann auf dem Sofa neben Aristodemos und dem Mann mit dickem Bauch spielt mit seiner Halskette. Er hält seinen Kelch hoch, bis ein Knabe ihm Wein einschenkt. Die Augen des Mannes mit der Halskette verharren auf dem Redner in der Mitte.
“So behaupte demnach auch ich, dass unter den Göttern Eros der älteste und herrlichste und der hilfreichste ist für die Menschen, zum Besitz der Tugend und Glückseligkeit im Leben und im Tode.”
Die Männer klatschen. Phaidros geht zurück zu seinem Platz. Da erhebt sich sein Nachbar vom Sofa rechts, der der sich eben noch Wein einschenken liess. Seine Halskette schwingt mit seinen Schritten, als er sich in die Mitte des Raumes begibt. Er spricht mit lauter Stimme: “Der göttliche Eros ist die Liebe zu Knaben!”
Es klirrt laut. Eine junge Frau eilt aus dem Raum.
“Und man kann auch bei der Knabenliebe ohne Weiteres diejenigen erkennen, die aufrichtig von dieser Liebe angetrieben sind. Denn sie lieben keine Kinder, sondern Jugendliche, die bereits beginnen, Verstand zu entwickeln. Dies aber geschieht mit dem ersten Bartwuchs.“
Niemand beachtet den Jungen mit der Schürze, der den Raum betritt. Seine Nase ist schmal und gerade. Seine Lippen sind voll. Er geht in die Hocke und sammelt Scherben ein.
“Denn bei uns ist es ja üblich: Wenn einer bereit ist, einem anderen in dem Glauben zu dienen, durch jenen besser zu werden, diese freiwillige Knechtschaft nicht als hässlich gilt und nicht als Kriecherei.”
Der Junge wirft dem Redner einen ausdruckslosen Blick zu. Dieser hickst.
“Sei das im Hinblick auf irgendein Wissen oder auf einen beliebigen anderen Teil der Tugend.”
Der Redner hickst wieder. “Während ich Rede, will der Schluckauf vielleicht vergehen.” “Wenn Du lange Zeit die Luft anhältst! Wenn aber nicht, gurgle mit Wasser”, wirft der Mann mit dem runden Bauch ein. Der Knabe ist mittlerweile aus dem Hintergrund verschwunden. “Sollte er aber sehr hartnäckig sein, nimm etwas, womit du die Nase reizen könntest, und niesse.”
Drei Frauen betreten den Raum. Sie stellen sich vor den Männern in einer Reihe auf. Die kleinste steht in der Mitte. Langsam senken die anderen beiden eine Krone auf den Kopf der Kleinsten. Die Krone ist mit scharfen Klingen bestückt. Die Frau in der Mitte verzieht das Gesicht und weicht erst zurück, bis sie sich die Krone dann doch auf den Kopf setzen lässt. Die anderen Frauen breiten die Arme in ihre Richtung aus und verbeugen sich. Der Knabe mit den vollen Lippen beginnt im Hintergrund Akkorde auf einer Zither zu schlagen. Sein Spiel wird schneller und schneller.
Die Männer haben ihre Augen auf die kleine Frau mit Krone gerichtet. Sie macht einen Schritt auf die Männer zu. Aristodemos wiederum hebt seinen Weinkelch in die Richtung der Frau und lacht. Diese streckt ihre Hände zur Seite aus. Mit einer ruckartigen Bewegung überschlägt sie sich rückwärts. Ihre Füsse sind in der Luft, als die Krone für einen kurzen Moment den Boden berührt. Dann landet sie mit gebeugten Knien auf ihren Füssen.
Die Augen von Sokrates, Aristodemos, Agathon und den anderen Männern sind weit aufgerissen. Die meisten von Ihnen liegen nicht mehr, sondern sitzen aufrecht. Der Mann mit der Halskette hält diese fest. Sokrates steht vor seinem Sofa, mit dem Weinkelch in der Hand.
Im Takt der Zither schlägt sich die kleine Frau immer und immer wieder rückwärts über. Bis das Zitherspiel des Jungen mit einem letzten lauten Zupfen verstummt. Die Frau landet abermals auf ihren Füssen. Diesmal verbeugt sie sich zusammen mit ihren Begleiterinnen. Die Männer klatschen lange und laut, als sich die Frauen umdrehen und mit kleinen schnellen Schritten in Richtung Tür gehen. Auf dem Rücken der kleinen Frau glänzen Schweissperlen. Etwas Blut tropft ihr vom Hinterkopf.
22:15 Uhr
“Sokrates, nun wollen wir dich hören”, sagt der Mann mit der Halskette und trinkt einen Schluck von seinem Wein. Sokrates begibt sich in die Raummitte. “Die Rede über den Eros, die ich einst von Diotima gehört habe, will ich euch wiederzugeben versuchen. Diotima war es, die mich in Liebesdingen unterwies.”
Aristodemos erhebt seinen Kelch und beginnt zu jubeln. Die anderen Männer tun es ihm gleich. Agathon winkt in die Richtung einer leichtbekleideten jungen Frau. Die Frau geht mit ihrem Mischkrug zu Aristodemos und seinem Sitznachbarn und schenkt diesen Wein ein. Die Männer johlen und jauchzen weiter und nippen an ihrem Wein.
“Heisst nicht jenes zu lieben…”.
Die Männer verstummen und richten ihre Blicke auf Sokrates.
“...was einem noch nicht zur Verfügung steht und was man nicht hat zu begehren, dass einem dies auch für die Zukunft erhalten und gegenwärtig bleibt.”
Die Frau mit dem Krug ist unterdessen beim Sofa links aussen angekommen. Als sie Agathon Wein einschenkt, legt dieser seine Hand auf ihren Kopf und lächelt.
“Also bedarf Eros der Schönheit und besitzt sie nicht”, fährt Sokrates fort. “Wenn die Liebe danach strebt, immer im Besitz des Guten zu sein, ergibt sich also aus dieser Überlegung, dass die Liebe auch nach der Unsterblichkeit strebt.”
Während Sokrates weiter spricht, bleibt die Frau mit dem Mischkrug in der Hand an der Wand zur Linken stehen und sieht den Redner an. Dieser hält inne und wendet sich ihr mit hochgezogenen Augenbrauen zu. Sie senkt den Blick sofort.
“Dies also war es, was Diotima sagte und mich hat sie überzeugt. Deshalb behaupte ich meinerseits, dass ein jeder Mann den Eros ehren muss, und ich selbst ehre das, was zur Liebe gehört, über mich ganz besonders hierin und fordere auch die...”
Laute dumpfe Klopfgeräusche erschallen.
Alle Männer richten ihren Blick zur Tür. Diese Tür geht auf und im Türrahmen erscheint ein Mann. Seine Augen sind blau und sein volles Haar ist blond gelockt. Es ist still. Der Mann mit den blonden Locken bewegt sich langsam auf die Sofas zu.
Sein Blick ist auf das Sofa ganz links im Raum gerichtet, auf dem Agathon und Sokrates liegen. Seine Stimme ist sehr laut:
“Bei Herakles! Was ist nun das? Du Sokrates bist nun da? Warum liegst du gerade hier? Du hast es wieder so ausgesonnen, dass du neben dem schönsten von Allen hier zu liegen kommst!" Er schwankt und schaut in die Runde. Die Männer schauen sich grinsend an.
“Oh, Alkibiades, willkommen! Wir hatten, ehe du hereinkamst, ausgemacht, dass rechtsherum der Reihe nach jeder eine Rede über den Eros halten sollte. So schön er nur könnte, um ihn zu preisen!”, sagt Agathon.
Nach kurzem Schweigen sagt der gelockte Neuankömmling: “Den Sokrates will ich, ihr Männer, in Bildern zu loben versuchen! Dieser wird glauben, das geschehe zum Spott, das Bild aber wird der Wahrheit, nicht dem Spott zuliebe sein…” Schritt für Schritt geht er auf Agathon und Sokrates zu.
“Also gut, mach es so!”, sagt der Mann mit dem dicken Bauch auf dem Sofa rechts aussen. “Lobe den Sokrates!"
Der Mann, der „Alkibiades“ gerufen wurde, stolpert kurz. Fängt sich. Geht weiter und legt sich dann zwischen Agathon und Sokrates.
“Also, ich lud ihn zu einem gemeinsamen Mahl ein, ohne Umschweife”, ruft Alkibiades derweil. “So wie ein Liebhaber, der seinem Geliebten nachstellt.” “Halt dein Maul, Alkibiades”, murmelt Sokrates mit gesenktem Blick.
Alkibiades lacht. “Und auch hier gab er mir nicht schnell nach. Aber er liess sich immerhin mit der Zeit überreden.” Die Mundwinkel von Phaidros zucken. Auch der Mann mit dem runden Bauch grinst. Während der Redner spricht, betritt ein Knabe den Raum. Er übergibt dem neu eingetroffenen Gast einen vollen Weinkelch. Alkibiades nimmt den Kelch, und stösst den Knaben mit der freien Hand beiseite. Dann fährt er fort.
“Als Sokrates das erste Mal da war, wollte er nach dem Essen gleich wieder gehen. Und damals habe ich ihn gehen lassen, weil ich mich schämte.”
Sokrates verdreht seine Augen. “Dies ist es, ihr Männer, was ich an Sokrates lobe.” Dieser schnaubt. “Und andererseits habe ich auch eingeflochten, was ich an ihm tadele. Und euch gesagt, womit er mich gekränkt hat.” Alle ausser Sokrates lachen. Dieser streicht mit den Fingern über seinen Bart.
Sokrates ergreift das Wort: “Du denkst, du könntest verbergen, dass du nicht alles nur deshalb vorgebracht hättest, um mich und den Agathon zu entzweien. Du meinst wohl, ich dürfe nur dich lieben und keinen andern, und Agathon dürfe auch nur von dir geliebt werden und nicht von einem Andern sonst.”
Alkibiades trinkt. Für einen kurzen Moment ist es still. Dann seufzt er und blickt er zur Decke. “Oh Zeus, was erleide ich hier wieder durch diesen Menschen."
05:30 Uhr
Die Sonne scheint durch die Vorhänge. Aristodemos und sein Sofanachbar schnarchen. Drei Frauen und ein Knabe tragen Kelche und Weinkrüge aus dem Raum und wischen die Tische ab. Auch Agathon schliesst seine Augen. Sokrates steht langsam auf und verlässt den Raum.
Begleittext
Es war wohl eine Journalistin oder ein Journalist auf der Berliner Redaktion der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die sich um die Jahrtausendwende herum eine neue Textform ausgedacht hat: Die Webcam. Schnörkellos, knapp und präzise beschreibt sie eine Szene. Ohne Vorwissen, ohne Meinungen oder Interpretationen. Eine Webcam eben. Alles, was sie tun kann: Zuhören und Zuschauen.
Die aristokratische Elite des antiken Athens hingegen beschreibt das Symposion - das gesittete Gelage nach dem Essen - durch ihre eigene Linse. Wer in der Antike Zeit und Musse besass zu schreiben, war privilegiert. Stets umgeben von Sklav:innen und Bediensteten. Oft ist die Liebe Thema der angeheiterten Symposien. Das bekannteste ist wohl Platons Symposion, in dem Sokrates nach den erotischen Reden das Gespräch irgendwann zur Liebe für die Weisheit leitet. Von den äusseren Umständen und dem Ablauf eines solchen Gastmahls erfahren wir dort so gut wie nichts. Der Schriftsteller Xenophon hingegen beschreibt ein lustig heiteres Trinkgelage, bei dem Sokrates zugegen ist. Die Gespräche sind komischer und das Unterhaltungsprogramm prominenter, samt akrobatischer Vorführung. Gemeinsam haben die Texte, dass sie für eine gebildete Oberschicht geschrieben wurden. Weder die Autoren, noch die Leser:innen, waren an den Klassenunterschieden und dem Machtgefälle zwischen den geladenen Herren und den Sklav:innen und Bediensteten interessiert.
Die Webcam aber vermag es, uns den Raum hinter den Dialogen zu zeigen. Die Webcam beobachtet nur. Die Webcam bleibt urteilsfrei.