Die Jugend von heute - von fiktiven Figuren erzogen
Die Auswirkungen fiktiver Figuren auf das Verhalten der Jugend am Beispiel der russischen Historienserie "Slowo Pazana"
Die Jugend von heute wird in einer Zeit Erwachsen, die von schnelllebigen Medienformaten und wöchentlich wechselnden Trends geprägt ist. Die Erziehung ist schon lange nicht nur die Aufgabe von Eltern, Erziehern und Lehrern. Immer mehr junge Menschen bauen ihr Wertesystem und ihre Weltanschauungen unterbewusst basierend auf ihrem Algorithmus in den sozialen Medien auf. Egal ob politische, soziale oder kulturelle Interessen – online ist für jede immer kleiner und spezifischer werdende Gruppe etwas dabei. Es liegt in der Natur des Menschen seine Mitmenschen dabei in Kategorien und soziale Milieus einzusortieren. Dieses „Schubladendenken“ helfe unserem Gehirn dabei schneller und effizienter Entscheidungen treffen zu können. Gleichzeitig ist die Kategorisierung sozialer Gruppen unvermeidbar und der Mensch schafft automatisch Vorurteile und Stereotypen von Personengruppen.1
Das Denken des Menschen ist also darauf ausgelegt sich selbst von anderen abzugrenzen und sich gleichzeitig anderen Gruppierungen zugehörig zu fühlen. Gerade in der Jugend übernimmt der Prozess der Identitätsstiftung unser ganzes Sein. Fragen wie „Wer bin ich?“, „Wer will ich sein?“ und „Wo gehöre ich dazu?“ gehören zum Alltag des jugendlichen Existentialismus und werden von den sozialen Medien intensiv gefördert und gefordert. Nicht nur Influencer, sondern auch fiktionale Figuren lassen Jugendliche in eine neue, für sie idealisierte Rolle schlüpfen, wie das Beispiel der russischen Historienserie „Slowo Pazana“ („Ehrenwort. Blut auf dem Asphalt.“) zeigt.
Die Serie spielt in Kasan, der Hauptstadt von Tatarstan, kurz vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion in den 1980er Jahren und spiegelt genau diese jugendliche Identitätsfindung durch Zugehörigkeit und Abgrenzung in extremen Verhältnissen wider. Die Geschichte basiert auf wahren Begebenheiten und fokussiert sich besonders auf die Bildung von kriminellen Jugendbanden unter der Armut der Bevölkerung in dem zerfallenden Wirtschaftssystem der UdSSR.2 Die Serie, die in bislang nur auf russischsprachigen Fernsehkanälen ausgestrahlt wurde, erzählt von einer dieser vielen Banden, die sich damals gewaltsam durch das System prügelten, Passanten ausraubten und illegale Geschäfte führten.
Der zu Beginn der Serie brave Schüler Andrej wird zum Opfer der Anpassung, als er sich zum Zweck der Zugehörigkeit der kriminellen Bande Stück für Stück hingibt. Die Loyalität innerhalb der Gruppe, die Schikane der Außenstehenden („Tschuschpani“) und die Rebellion gegen die Ordnung reizte nicht nur die Jugendlichen der damaligen UdSSR.
Tagesschau informiert: „Das alles weckt bei vielen Zuschauern bittersüße Nostalgie – oder bedient die Sehnsucht der Jüngeren nach einer Zeit, die sie zwar selbst nicht erlebt haben, in der sie sich aber dank Retro-Trends und ständiger Geschichtsbelehrung auskennen.“3
Die Jugend mit russischem Migrationshintergrund schwelgt in Nostalgie für eine Zeit, vor der ihre Eltern sich fürchten. Generationen, die diese Zeit erlebt haben, berichten von einer grausamen Zeit, die sie nur ungern Revue passieren lassen, während ihre Kinder zu russischer Musik der 80er Jahre TikToks drehen, Tänze der Serie kopieren und die Sprache, oder viel mehr den Slang der Serie, nachahmen. Einander das „Ehrenwort“ zu geben ist wieder im Trend.
Da es für die Serie bislang keine Übersetzung in andere Sprachen gibt, sind die Auswirkungen auf das Verhalten der deutschen Jugend recht bescheiden ausgefallen, obwohl der Trend sich durchaus vor allem in der russlanddeutschen Bevölkerung bemerkbar machte. Viel gravierender fiel der Einfluss in den russischsprachigen Ländern aus, denn „die Politik speziell in Tatarstan [ruft] nach einem Verbot“.4
Die historische Aufarbeitung des gesellschaftlichen Miteinanders /Gegeneinanders ist natürlich notwendig und es ist richtig und hilfreich, dass Serien wie „Slowo Pazana“ existieren, um die Geschichte der Welt zugänglich zu machen und näherzubringen, ohne dass man dafür in großen Archiven forschen muss. Was bei der immer populärer werdenden Serie nur aufgefallen ist, ist wie Jugendliche sich von den großen Emotionen der Serie mitreißen lassen und sie in einen romantisch-nostalgischen Mantel wickeln.
Die philosophische Frage die sich in diesem Kontext stellt ist: Inwiefern lassen sich Jugendliche in ihrer Entwicklung von realen, aber auch fiktionalen Figuren beeinflussen und welche (gefährlichen) Auswirkungen kann dieser Einfluss auf ein friedliches Zusammenleben in der Gesellschaft haben?
Die Grundlage für die Beantwortung dieser Frage bildet eine der gegensätzlichen Grundannahme bezüglich der freien oder determinierten Entscheidungsmacht des Menschen:
Eine der philosophischen Grundannahmen besagt, der Mensch sei mit seinen Charakterzügen geboren worden und somit in seiner Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit zu einem gewissen Ausmaß determiniert. Basierend auf dieser Annahme, wäre es bereits klar, dass einige Menschen sich leicht von Medien beeinflussen lassen, wohingegen andere einen resistenteren Charakter aufweisen können, ohne aktiv Widerstand leisten zu müssen.
Ein anderer philosophischer Zweig behauptet, der Mensch sei das Produkt seiner Umwelt. Er werde geprägt von seinen Mitmenschen, seinen Lebensbedingungen und auch von den Medien, die er konsumiert. In dem Fall hätten auch fiktionale Vorbilder die Macht den Verstand des Menschen umzustrukturieren, was eine potentielle Gefahr für die Gesellschaft darstellt, dessen Harmonie von dem Konsumverhalten des einzelnen Menschen gefährdet werden könnte. Rein hypothetisch könnte die Bevölkerung so von ausgewählten Medien erzogen werden, sodass Gruppen von Menschen gezielt radikalisiert werden könnten – ganz passiv und unterbewusst, ohne dass sie ihren eigenen Wandel wahrnehmen. Ob ein Verbot von Medien mit potentieller Gefahr und Risiko einer Radikalisierung der Gesellschaft legitim ist, oder ob das ein Eingriff in die Freiheit des Menschen wäre, ist eine Frage, die nun jeder Leser für sich selbst erdenken darf.
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References
[1] Teamfit: Vorurteile & Klischees: Warum das Hirn in Schubladen denkt, 11.10.2023<br>[2] Bundesstiftung-Auferbeitung: Historischer Überblick: Auflösung der Sowjetunion, Ewgeniy Kasakow<br>[3] Tagesschau: Eine Jugendbande begeistert Russland, Jasper Steinlein, 03.02.2024<br>[4] Moskauer Deutsche Zeitung: Bildstörung: hochgelobte Serie ist Politikern Dorn im Auge, Tino Künzel, 30.12