Forschungsnovum Psychotextologie

Das Konzept der Experimentellen Psychotherapiewissenschaft an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien (SFU).

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    Einleitende Begriffsbestimmungen

    In diesem Text wird das Konzept einer neuartigen Form von hermeneutischer Theorienanalyse auf dem Gebiet der Psychotherapie vorgestellt, die sich Experimentelle Psychotherapiewissenschaft (Greiner, 2020) nennt. Experimentelle Psychotherapiewissenschaft, die freilich nicht das Geringste mit „Experimenteller Psychologie“ zu tun hat, ist angewandte Psychotextologie (Greiner, 2023). Psychotextologie ist die Lehre von der textwissenschaftlichen Erforschung psychotherapeutischer Theorien mittels experimental- und imaginativhermeneutischer Instrumentarien. Experimental- und imaginativhermeneutische Instrumentarien weisen zwei unterschiedliche, einander ergänzende Arten von Prozessphasen auf, nämlich 1.) spielerisch-experimentelle bzw. künstlerisch-kreative Prozessphasen sowie 2.) kritisch-reflexive bzw. interpretatorisch-analytische Prozessphasen. Aufgrund der methodischen Miteinbeziehung spielerisch-experimenteller bzw. künstlerisch-kreativer Prozesse repräsentiert die Experimentelle Psychotherapiewissenschaft bzw. Psychotextologie (Synonym) ein Beispiel für „Arts-Based Research“ in der Psychotherapiewissenschaft. Eines der zentralen Anliegen von Arts-Based Research oder auch „Kunstbasierter Forschung“ besteht darin, künstlerische Medien und kreative Ausdrucksformen für bestimmte wissenschaftliche Forschungszwecke sinnvoll zum Einsatz zu bringen (Schreier, 2017).

    1. Das irritationslogische Funktionsprinzip der Psychotextologie: Sinnverstehen durch Sinnverstören

    Im Rahmen der jungen Grundlagenforschungsdisziplin Experimentelle Psychotherapiewissenschaft alias Psychotextologie, die im Jahr 2007 an der Sigmund Freud PrivatUniversität Wien (SFU) in Schwung gekommen war, wurden spezielle experimental- und imaginativhermeneutische Reflexionsinstrumentarien für die Analyse psychotherapeutischer Theorien konzipiert und entwickelt (Greiner, 2011; 2012; 2013a; 2013b; 2013c; 2013d; 2014; Greiner et al., 2009; 2010; 2012; 2013; 2015), deren gemeinsame Basis das irritationslogische Verfahrensprinzip darstellt, welches seinerseits die epistemologische Idee der „Verfremdung“ im „Konstruktiven Realismus“ nach Friedrich G. Wallner (1992a; 1992b; 1992c; 1993; 1997; 2002) kennzeichnet.

    In Anknüpfung an Ludwig Wittgensteins (1989) „Sprachspieltheorie“ berücksichtigt man im wissenschaftstheoretischen Denken des Konstruktiven Realismus das interessante Phänomen, dass Wissenschaftler*innen, Forscher*innen sowie Praktiker*innen zu keinem reflexiven, auf die eigenen Aktivitäten bezogenen differenzierten Handlungswissen gelangen können, solange sie innerhalb ihrer angestammten Handlungskontexte im üblichen, methodisch korrekten Sinne agieren. Hierzu fehlt nämlich die nötige Distanz. Daher schlagen Konstruktive Realisten die Strategie des Verfremdens vor, um den erforderlichen Abstand zu den üblichen Denk- und Praxisvollzügen im eigenen Aktivitätsfeld zu gewinnen (Greiner et al., 2006). Systematisch sollen die je spezifischen Weisen eines konkreten wissenschaftlichen Vorgehens aus ihrem genuinen Zusammenhang bewusst herausgenommen, in fremdartige Rahmenbedingungen hineingestellt und in weiterer Folge auch betrachtet werden. Die betrachtende Konfrontation mit den verfremdeten Sinngehalten löst sodann jene – mehr oder weniger intensive – Irritation aus, um die es eigentlich geht. Die systematisch induzierte Sinnverstörung hat dabei insofern methodische Funktion, als sie über ein erkenntnisgenerierendes Potenzial verfügt. Wollte man die erkenntnistheoretische Logik des systematischen Sinnirritierens, welche die Verfremdungsdynamik charakterisiert, resümierend auf eine Formel verdichten, so lautete diese folgendermaßen:

    Nur wenn vertrautes Denken im Zuge des Fremdwerdens einen genuinen Konfusionseffekt hervorruft, lässt es sich erst bestaunen, hinsichtlich impliziter, unverstandener, da nicht thematisierter Bedingungs- und Voraussetzungsstrukturen kritisch befragen und nicht zuletzt auch potenziell verändern resp. weiterentwickeln (Wallner, 1992b; 1992c; 1993; 1997; 2002).

    2. Das theorienanalytische Verfahrensprogramm der Psychotextologie: Systematische Irritation via spielerisch-kreative Versuche

    Über die Anwendung von experimental- und imaginativhermeneutischen Methoden wird in der Experimentellen Psychotherapiewissenschaft alias Psychotextologie insofern Arts-Based Research betrieben, als dabei verschiedene kreative Darstellungs- und Ausdrucksformen bzw. diverse künstlerische Medien zum Einsatz kommen: Text, Bild, Musik, Tanz und Pantomime. Zurzeit gibt es die folgenden vier Programmsektoren (1-4), innerhalb derer Psychotherapeut*innen mit speziell konzipierten innovativen bis radikalkreativen bzw. bizarrosophischen Sinnverstörungsmethoden irritationslogisches Wissen über Bedingungs- und Voraussetzungsstrukturen schaffen können, die ihren therapeutischen Lehren, Konzepten und Theorien implizit zugrunde liegen (Greiner, 2019; 2020; Greiner et al., 2015):

    Programmsektor 1: Standardisierter Therapieschulendialog (TSD)

    • Experimentelle Trans-Kontextualisation (ExTK) (Verfahren 1.a)

     Programmsektor 2: Text-Puzzle-Verfahren

    • Klassisches Psycho-Text-Puzzle (P-T-P) (Verfahren 2.a)
    • Interdisziplinäres Psycho-Text-Puzzle (I.PTP) (Verfahren 2.b)
    • Intertherapeutisches Text-Puzzle (ITTP) (Verfahren 2.c)

    Programmsektor 3: Psycho-Bild-Methoden

    • Klassischer Psycho-Bild-Prozess (PBP) (Verfahren 3.a)
    • Intertherapeutischer Bild-Prozess (ITBP) (Verfahren 3.b)
    • Kleines Psycho-Bild-Spiel (PBS/k) (Verfahren 3.c)
    • Großes Psycho-Bild-Spiel (PBS/g) (Verfahren 3.d)
    • Theorie-Bild-Analyse (TBA) (Verfahren 3.e)

    Programmsektor 4: Medien-Spiel-Techniken

    • Klassische Psycho-Medien-Spiele (PMS) (Verfahren 4.a.I – 4.a.III)
      • Psycho-Mimik-Analyse/PMiA (4.a.I)
      • Psycho-Musik-Analyse/PMuA (4.a.II)
      • Psycho-Tanz-Analyse/PTA (4.a.III)
    • Intertherapeutische Medien-Spiele (ITMS) (Verfahren 4.b.I – 4.b.III)
      • Intertherapeutische Mimik-Analyse/ITMiA (4.b.I)
      • Intertherapeutische Musik-Analyse/ITMuA (4.b.II)
      • Intertherapeutische Tanz-Analyse/ITTA (4.b.III)

    3. Die radikalkreative Regelstruktur der Psychotextologie am Beispiel des Verfahrens 2.b: Interdisziplinäres Psycho-Text-Puzzle (I.PTP)

    Um einen ersten Eindruck von den speziellen Operationsprozessen des theorienanalytischen Forschens in der Experimentellen Psychotherapiewissenschaft alias Psychotextologie gewinnen zu können, soll nun exemplarisch das Regelsystem des Verfahrens 2.b Interdisziplinäres Psycho-Text-Puzzle (I.PTP) (Greiner, 2014) vorgestellt werden.

    Der reflexionswissenschaftliche sowie kreativitätsfördernde Spielprozess im I.PTP gliedert sich in fünf Textspieletappen: Präsentation (1), Selektion (2), Substitution (3), Transformation (4) und Konklusion (5). Die Textspieletappen 1, 2, 3 und 4 repräsentieren die Kreative Phase (I) bzw. die Phase des spielerisch-experimentellen Umgangs mit psychotherapeutischen Theorien, und die Textspieletappe 5 repräsentiert mit ihren 4 Unterstufen (5.1/5.2/5.3/5.4) die Analytische Phase (II) bzw. die Phase des kritisch-reflexiven Umgangs mit psychotherapeutischen Theorien. Im Folgenden soll jede einzelne Etappe kurz erläutert werden, bevor es den gesamten Textspielprozess grafisch zu veranschaulichen gilt.

    Etappe 1: Präsentation

    von Psycho-Text (psychotherapietheoretisch) und Fremd-Text (wissenschaftlich): a) psychotherapietheoretischer Psycho-Text (z.B. S. Freuds Instanzenmodell, A. Adlers Kompensationstheorie, E. Bernes Ich-Konzeption etc.) b) wissenschaftlicher Fremd-Text (Texte aus anderen wissenschaftlichen resp. philosophischen Fachgebieten).

    Etappe 2: Selektion

    von spezifischen Textelementen (strukturell bedeutsame Begriffe und Begriffsfiguren): a) psychotherapietheoretische Textelemente/Psycho-Text-Elemente b) wissenschaftliche Textelemente/Fremd-Text-Elemente.

    Etappe 3: Substitution

    der wissenschaftlichen Fremd-Text-Elemente: Psycho-Text-Elemente ersetzen Fremd-Text-Elemente. Dieser Austauschprozess kann theoriekonform mittels theoriebasierten Assoziationen über die Fragen „Was bietet sich an? Was ist naheliegend?“ durchgeführt werden. Er lässt sich aber auch theorie-unabhängig über die spielerische Taktik des freien Jonglierens mit Begriffen gestalten. In vielen Fällen wird sich während des Substitutionsaktes herausstellen, dass noch mehr Psycho-Text-Elemente und/oder Fremd-Text-Elemente für den Spielfortgang benötigt werden. Eine Nach-Selektion ist nahezu unvermeidlich und selbstverständlich legitim. Grundsätzlich funktioniert der Substitutionsprozess nur dann adäquat, wenn er von der ernsthaften Absicht getragen ist, letztlich einen logisch schlüssigen, inhaltlich jedoch bizarren Transformations- oder Neutext zu formen.

    Etappe 4: Transformation

    der substituierten Psycho-Text-Elemente in die wissenschaftliche Fremd-Text-Struktur: Psycho-Text-Elemente (psychotherapietheoretische Termini) werden in den Fremd-Text (wissenschaftlicher oder philosophischer Text) strukturell integriert, womit ein konsistenter Transformations- oder Neutext geschaffen wird, der sich durch größtmögliche originelle Eigenwilligkeit auszeichnen sollte.

    Etappe 5: Konklusion

    Im Interdisziplinären Psycho-Text-Puzzle (I.PTP) wird das Ziel verfolgt, über die spielbasierte Strategie des Verstörens und Verblüffens durch originelles Umgestalten und bizarres Neukombinieren innovative Perspektiven und inspirative Impulse zu evozieren (Prinzip des inspirativen Frappierens), die sich auf die psychotherapietheoretische Ideenentwicklung produktiv auswirken. In der Konklusions-Etappe geht es nun um die Frage, inwiefern bzw. auf welche Weise das angepeilte Ziel im konkreten Spieldurchgang erreicht wurde. Über ein vierstufiges Vorgehen soll diese Frage beantwortet werden.

    5.1) Kontemplation – Transformationstext:

    Im Zuge der betrachtenden Lektüre des kreativ-transformierten Textprodukts sollte man das innovative Textbild zunächst einmal nur auf sich wirken lassen.

    5.2) Konzentration auf den Exotikfaktor:

    Es folgt die Fokussierung der auffallendsten Verstörungen im Text, der verblüffendsten Textmomente. Dabei sollen Exotik-Pointen (EP), d.h. jene irritierenden Textstellen ausgewählt und herausgehoben werden, die den kreativen Neutext – gemessen an der theoriespezifischen Logik des psychotherapietheoretischen Textes – bizarr, grotesk oder abstrus erscheinen lassen.

    5.3) Deduktion von Provokaten:

    Welche verstörenden oder verblüffenden Perspektiven eröffnet die nähere Auseinandersetzung mit den Exotik-Pointen (EP)? Die EP gilt es nun auf eine diskursive Weise mit der theoriespezifischen Logik des psychotherapietheoretischen Textes zu konfrontieren, sodass dabei provokante Sätze oder Thesen (Provokate) ableitbar werden.

    5.4) Diskussion des Impulspotenzials:

    Implizieren die deduzierten Provokate womöglich ein inspirierendes und kreativitätsförderndes Potenzial? Lassen sich die speziellen Provokate vielleicht sogar als konkrete Impulsgeber für die psychotherapietheoretische Ideenentwicklung nutzen? Die Erörterung dieser Fragen, die vom*von der Textspieler*in initiiert wird, soll schließlich in eine weiterführende Diskussion im fachspezifischen Expert*innenkreis einmünden. Dabei angefertigte Gesprächsprotokolle sind für eine erweiterte Ergebnisdarstellung zu verwerten.