Lucerne has many things to recommend it

Dieses Interview ist Teil des Projekts Schweizer Philosophie im Fokus

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    Rafael Ferber ist Titularprofessor für Philosophie an der Universität Zürich und war von 2000 bis 2015 ordentlicher Professor für Philosophie an der theologischen Fakultät der Universität Luzern. Im Interview spricht er über seine Erfahrungen in der akademischen Philosophie, die Wahrnehmung der Philosophie in der Schweiz im Ausland und das Verhältnis zwischen Theologie und Philosophie.

     

    Marco Schori: Sie haben an der Universität Bern promoviert und an der Universität Zürich habilitiert, wo Sie später auch zum Titularprofessor ernannt wurden. Ein Jahr, nachdem Sie zum ausserordentlichen Professor für Philosophie mit Schwerpunkt antike Philosophie an der Universität zu Köln ernannt worden sind, wurden Sie ordentlicher Professor für Philosophie an der theologischen Fakultät der Universität Luzern. Was hat Sie dazu bewogen, nach Luzern zu gehen?

    Rafael Ferber: Danke für diese Frage. Ich habe mich bereits im Jahre 1996 auf die damals ausgeschriebene Stelle in Luzern beworben. Nachdem sich das Verfahren aber lange hinausgezögert hat, habe ich mich auch anderswo beworben und dann 1999 den Ruf auf die C3-Professur an der Universität zu Köln erhalten. Und in der Ungewissheit, wie es in Luzern weitergeht, habe ich diese Professur im Herbst 1999 auch angetreten. Ein Problem in Luzern war, dass damals keine Berufungen ausgesprochen werden konnten, wenn nicht vorher das Universitätsgesetz angenommen worden war. Das Universitätsgesetz wurde dann am 21. Mai 2000 angenommen, und dann kam erst der Ruf nach Luzern, und dann auch die schwerste Entscheidung meines beruflichen Lebens: Wo soll ich jetzt eigentlich hingehen? Ich wäre gerne noch länger in Köln geblieben. Aber es war unmöglich, mich dort beurlauben zu lassen. So habe ich mich doch für Luzern entschieden. Sie fragen warum? In einem Satz würde ich es so sagen: Lucerne has many things to recommend it. [lacht]

    Aber letzten Endes waren es auch private Gründe, die mich bewogen haben, nach Luzern zu gehen. Ich musste mich entscheiden, wo ich eigentlich mein Leben verbringen will, in der Schweiz oder in Deutschland. Zwar bin ich gebürtiger Deutscher, aber nicht zuletzt auch nach den Erfahrungen, die mein Vater Walter Ferber (1907–1996) mit Deutschland gemacht hat, habe ich mich für die Schweiz entschieden. Hinzu kam, dass es sich bei der Professur in Luzern um ein Ordinariat mit einer breiteren Denomination gehandelt hat als in Köln, wo ich eine C3-Professur, also eine ausserordentliche Professur mit «Schwerpunkt: antike Philosophie» innehatte. Sicher hat auch die schöne Landschaft um Luzern herum zu meiner Entscheidung beigetragen.

    In Ihrer akademischen Laufbahn haben Sie an verschiedenen philosophischen Instituten in der Schweiz gewirkt, nicht nur in Luzern. Darunter sind Bern, Zürich, Lausanne und Fribourg. Konnten Sie dabei merkliche Unterschiede zwischen den verschiedenen Instituten und Seminaren ausmachen? Oder gibt es auch viele Gemeinsamkeiten?

    Es gab und gibt merkliche Unterschiede. Ich fange mit Bern an, wo Sie herkommen. In Bern war seinerzeit unter dem Einfluss von Henri Lauener (1933–2002) insbesondere die analytische Philosophie präsent, die in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts an der Universität Zürich, in Luzern und in Lausanne eher marginal vertreten blieb. Fribourg wiederum hatte neben der Zweisprachigkeit den Vorteil, dass es mit fünf, beziehungsweise sechs Professuren – es kam noch die ausserordentliche Professur für Ästhetik und osteuropäische Philosophie hinzu – breiter aufgestellt war als Zürich und Lausanne. Insbesondere waren auch die antike und mittelalterliche Philosophie durch eigene Lehrstühle vertreten. Hinzu kam die herausragende Persönlichkeit von Joseph Maria Bocheński OP (1902–1995), der nicht nur Historiker der formalen Logik, sondern auch mit der zeitgenössischen Philosophie, auch derjenigen der damaligen Sowjetunion, vertraut war, aber auch als Mensch Standards setzte. Selbstverständlich gab und gibt es auch Gemeinsamkeiten in den behandelten Themen. Doch die Unterschiede innerhalb der schweizerischen Seminare oder Institute für Philosophie waren jedenfalls damals frappant.

    Am meisten eigentlich ist mir – dort habe ich ja auch 1970/72 studiert – in Fribourg Bocheński in Erinnerung geblieben. Er war ausserordentlich – oder sagen wir mal ungewöhnlich – grosszügig und nett zu den damals Studierenden. Wir konnten ihn in das Albertinum, das Domizil der Dominikaner in Fribourg, begleiten; er war bereit, mir aus seiner eigenen Bibliothek „Wahrheit und Methode“ von Gadamer auszuleihen, und brachte trotz seiner hohen Ansprüche den Studierenden eine Anerkennung und Wertschätzung entgegen, die ich nachher eigentlich nicht mehr gefunden habe, obwohl ich nur eine kleine Arbeit über den Aufsatz von Gustav Bergmann (1908–1987) «Sinn und Unsinn des methodologischen Operationalismus» vorgelegt hatte. Er hat mich dafür getadelt, dass ich den Namen der Übersetzer aus dem Amerikanischen nicht angegeben habe. Er hatte damit recht (da Übersetzungen sehr unterschiedlich sein können), und das habe ich mir für den Rest meines Lebens gemerkt. Zu meinen schönsten Erinnerungen gehören seine Seminare, wo wir nur wenige waren und manchmal in seinem Wagen nach Grandfey fuhren und dort im Garten des Restaurants getagt haben. Seinen Rat «Ne lisez pas de bêtises, lisez Platon!» habe ich mir jedenfalls zu Herzen genommen.

    Eine Besonderheit der Schweiz oder der Universitäten in der Schweiz ist die Vielfalt von Sprachen. Eine kurze Nachfrage hierzu: Gibt es auch hinsichtlich dieser sprachlichen Unterschiede – Fribourg ist bilingue, Lausanne Französisch, Bern, Zürich und Luzern Deutsch – Merkmale, die besonders sind?

    Ja, also in Fribourg war sicher auch die französische Philosophie präsenter als beispielsweise in Zürich oder Bern. Ich erinnere mich an verschiedene Einladungen von französischen Philosophen wie z. B. von Emmanuel Lévinas (1902–1995).

    Sie waren aber nicht nur in der Schweiz, sondern auch international an verschiedenen Universitäten tätig. Sie haben unter anderem in den USA, in England, in Deutschland und in Italien gewirkt. Wie wird dort die Philosophie in der Schweiz wahrgenommen? Gibt es auch dort Gemeinsamkeiten mit und Unterschiede zu der Philosophie in der Schweiz?

    Sie sagen zu Recht «Philosophie in der Schweiz» und nicht «Schweizer Philosophie», denn es gibt keine «Schweizer Philosophie», wie man vielleicht zu Recht von einer schottischen oder polnischen Philosophie sprechen könnte. Es gibt selbstverständlich Philosophie in der Schweiz, aber diese wird in den USA und England – wenn ich aufrichtig sein darf – nicht gross wahrgenommen. Aber es gibt Ausnahmen: Einzelne Philosophinnen und Philosophen werden auch in den USA und England rezipiert, insbesondere wenn sie in Englisch publizieren. In Deutschland hingegen wird die Philosophie in der Schweiz eher als eine Sekundogeniturlinie der deutschen Philosophie betrachtet. In Italien gilt vielleicht das bekannte Sprichwort auch für die Philosophie: «Die Deutschen lieben die Italiener, aber sie bewundern sie nicht; die Italiener bewundern die Deutschen, aber sie lieben sie nicht.» Es besteht zwar einerseits eine grosse Übersetzungskultur in Italien - auch von deutschsprachigen Werken -, aber auch Distanz. So z.B. hat Donatella di Cesare ein Buch publiziert «Heidegger e gli ebrei: i "Quaderni neri"» (2014), das unter dem Titel «Heidegger, die Juden und die Shoa» (2016) auch ins Deutsche übersetzt worden ist, und Heidegger einen «metaphysischen Antisemitismus» vorwirft.

    Dafür ist die antike Philosophie in Italien lebendiger als in Deutschland und in der Deutschschweiz. Gemeinsamkeiten gibt es selbstverständlich auch, es ist ja ein weites Feld.

    Von 1973 bis 1993 organisierte der Berner Professor Henri Lauener verschiedene Philosophietagungen in Biel, bekannt auch als die Bieler Kolloquien, an denen auch immer wieder international anerkannte Professoren teilnahmen. Sie waren zu einem Teil dieser Zeit in Bern, bis etwa 1978 während Ihrer Promotion und dann in Zürich, wo Sie Ihre Habilitation gemacht haben. Haben Sie an diesen Tagungen auch teilgenommen? Und wie schätzen Sie den Stellenwert für und die Auswirkungen auf die Philosophie in der Schweiz ein?

    Ich habe an einigen dieser Tagungen teilgenommen, insbesondere an der ersten im Jahre 1973, wo ich unter anderem mit Erik Stenius (1911–1990) ins Gespräch kam, und derjenigen im Jahre 1983, wo ich Donald Davidson (1917–2003) kennenlernte. Diese Kolloquien sind im Rückblick ein Highlight der Philosophie in der Schweiz gewesen, weil es Lauener gelungen ist, zumindest einige der Koryphäen der analytischen Philosophie zusammenzubringen. Umso bedauerlicher ist es, dass sie wenig Nachwirkung gefunden haben. Eine historische Aufarbeitung, wie Sie es jetzt gerade planen, ist insbesondere im Interesse der Geschichte der analytischen Philosophie in der Schweiz angezeigt.

    In diesem Zusammenhang ist natürlich auch die wissenschaftliche Zeitschrift Dialectica von Bedeutung. Diese erscheint seit 1947 und ist in der Schweiz ansässig. Viele Beiträge an den eben erwähnten Kolloquien wurden darin publiziert. Welche Rolle spielte diese Zeitschrift für Ihre eigenen Publikationen, insbesondere als Forscher, der sich mit antiker Philosophie auseinandersetzt? Und wie schätzen Sie allgemein die akademischen Publikationsmöglichkeiten in der Schweiz ein?

    Als Forscher, der sich insbesondere mit antiker Philosophie beschäftigt hat, spielt Dialectica für mich keine grosse Rolle. Dialectica hat auch nur wenige Aufsätze zu antiker Philosophie publiziert. Ausser Dialectica gibt es in der Schweiz meines Wissens drei, früher einmal vier philosophische Zeitschriften: Die Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, die Studia Philosophica und die Revue de théologie et de philosophie. Die Studia Philosophica, sind keine Zeitschrift im engeren Sinne, sondern das Jahrbuch der Schweizerischen Gesellschaft für Philosophie. Aber in erster Linie wird nur Dialectica auch ausserhalb der Schweiz rezipiert. Wer in der Schweiz eine akademische Laufbahn einschlagen will, ist jedenfalls gut beraten, wenn er auch ausserhalb der Schweiz publiziert.

    Regelmässige Publikationen sind ein zentraler Bestandteil der heutigen akademischen Arbeit oder Forschung. Wie hat sich dies während Ihrer eigenen Laufbahn verändert?

    Der Druck, die Ergebnisse seines Nachdenkens kleinteilig in sogenannten Peer-Review-Journals zu veröffentlichen, ist grösser geworden. Leider wird heute der akademische Stellenwert einer Philosophin oder eines Philosophen wesentlich durch Publikationen in diesen Journals und durch die eingeworbenen Drittmittel und weniger durch Monographien oder Leistungen in der Lehre bestimmt. Diesbezüglich kann man von einer Veränderung der «akademischen Arbeit» sprechen.

    Und in diesem Zusammenhang, in Bezug auf diesen grösseren Druck, die philosophische Arbeit kleinteiliger und mehr davon zu publizieren, ist sicher auch interessant, wie sich die Arbeitsbedingungen auf den unterschiedlichen Karrierestufen während einer akademischen Laufbahn verändert haben. Hat die sogenannte Publish-or-perish-Kultur einen starken Einfluss darauf? Und wie haben Sie diese verschiedenen Karrierestufen und deren Arbeitsbedingungen in Ihrer Laufbahn erlebt?

    Ich war 15 Jahre Privatdozent für Philosophie an der Universität Zürich und gleichzeitig Gymnasiallehrer, zuerst für Latein, Altgriechisch, Deutsch und Geschichte an verschiedenen Gymnasien, dann erst nach meinem 40. Lebensjahr für Philosophie, und zwar von 1990 bis 2000 an der «Kantonalen Maturitätsschule für Erwachsene» (MSE) in Luzern. Heute verläuft der Weg zu einer Professur meistens über Postdoc-Stipendien und Assistentenstellen. Das bedeutet auch, dass diejenigen, die eine akademische Laufbahn einschlagen, Spezialisten oder Spezialistinnen einer philosophischen Subdisziplin oder historischen Epoche sein und viel publizieren müssen, um im Markt bestehen zu können. Das Spezialistentum wird zulasten einer breiteren Auffassung der Philosophie und ihrer Geschichte gefördert.

    An dieser Stelle können wir eine Entwicklung in den Blick nehmen, die unter anderem auch mit den Arbeitsbedingungen in der Akademie zusammenhängt. Es ist bekannt, dass in der Philosophie verschiedene marginalisierte Gruppen stark untervertreten sind. Wenn Sie auf diese Entwicklungen der Arbeitsbedingungen in der akademischen Philosophie zurückschauen, wo könnte man Ihrer Ansicht nach ansetzen, um die Philosophie inklusiver zu machen? Wie könnte man mehr Möglichkeiten schaffen, damit auch historisch und aktuell marginalisierte Gruppen besseren Zugang zu solchen Laufbahnen erhalten?

    Dazu muss ich etwas ausholen: Wir können schon seit Platon und Aristoteles zwischen einer exoterischen und einer esoterischen Seite der Philosophie unterscheiden. Mit exoterischen oder «popularphilosophischen» Publikationen, wie zum Beispiel denjenigen von Richard David Precht, ist die Philosophie im deutschen Sprachraum heute einerseits so inklusiv wie wohl noch nie. Aber die akademische Philosophie ist in der Tat nicht inklusiv, insbesondere was Besetzungen von Professuren betrifft. Im Prinzip wäre ein Umbau der Universitäten nötig, so dass nicht nur einige wenige Personen relativ gut dotierte Ordinariate mit Ausstattung erhalten. Es müssten mehr «kleinere» unbefristete Stellen geschaffen werden, auf die insbesondere auch marginalisierte Gruppen berufen werden könnten, damit sie beruflich bei der Philosophie bleiben können. Aber es ist angesichts der gegenwärtigen Universitätsstrukturen, vor allem in der Schweiz, sehr schwer, das in die Praxis umzusetzen.

    Sie haben sich in Ihrer Laufbahn und auch heute noch insbesondere mit der Erforschung der antiken Philosophie und im Speziellen auch mit Platon auseinandergesetzt. Wie schätzen Sie die Stellung der philosophiegeschichtlichen Forschung in der Schweiz ein? Und wie würden Sie deren Relevanz für zeitgenössische Philosophie – nicht nur historische, sondern systematische Philosophie – beschreiben?

    Zwar gibt es den Grundriss der Geschichte der Philosophie, der vom Schwabe Verlag, Basel, betreut wird und einige ausgezeichnete Philosophiehistoriker in der Schweiz. Doch ist die Geschichte der Philosophie in den letzten Jahrzehnten gegenüber der systematischen Philosophie in den Hintergrund geraten. Es gibt aber Grundeinsichten aus der Geschichte der Philosophie, die man nicht ohne Verlust für die systematische Philosophie vernachlässigen kann. Zum Beispiel die sokratisch-platonische Einsicht, dass es einen Unterschied gibt zwischen richtiger Meinung und Wissen und anderes mehr (vgl. Menon 98b, Symposion 202a, Politeia 477e–478d, Timaios 51d–52a). Grundsätzlich würde ich zwar heute noch den Satz von Kant unterschreiben, dass man nicht «Philosophie (es sei denn historisch)», «höchstens nur Philosophieren» lernen kann (vgl. Kritik der reinen Vernunft, B 865). Aber ich würde hinzufügen: Aus der Geschichte der Philosophie kann man auch vieles für die (systematische) Philosophie lernen, auch wenn ein verbindliches «System der Philosophie» – wenn es denn eines gäbe – auf Dauer wohl nur durch den «repressiven Gebrauch staatlicher Gewalt» («oppressive use of state power») (J. Rawls 1993, Political Liberalism, Lecture I, § 6, p. 37) aufrechterhalten werden könnte. Die menschliche Vernunft neigt auch in den wichtigsten philosophischen Fragen zum Dissens. Gleichwohl bleibt m. E. zumindest eine «Synopse» der philosophischen Probleme und Lösungsvorschläge so etwas wie eine berechtigte regulative Idee.

    Ihre ordentliche Professur an der Universität Luzern war an der theologischen Fakultät angesiedelt. Bei welchen Fragen sehen Sie besonders interessante Verbindungen für eine Zusammenarbeit zwischen der Philosophie und der Theologie?

    Interessante Verbindungen bestehen insbesondere im Zusammenhang mit den sogenannten letzten Fragen, wie z. B. der Frage nach Gott oder dem Sinn von Leben und Tod, aber auch bei Fragen nach dem Verhältnis von Glauben und Wissen. Es sind philosophische Fragen, die uns auch persönlich betreffen.

    Oft wird es so dargestellt, dass im Mittelalter – gerade in der Scholastik – die Theologie und die Philosophie als Einheit wahrgenommen wurden. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wie würden Sie diese Entwicklung einordnen?

    Man muss unterscheiden zwischen einer philosophischen Theologie und einer Offenbarungstheologie. Die Trennung von Philosophie und Offenbarungstheologie ist ein Gewinn für die Philosophie. Die Philosophie muss unabhängig sein von irgendwelchen konfessionellen dogmatischen Voraussetzungen. Christlich, jüdisch oder muslimisch kann eine Philosophie nicht in einem wesentlichen, sondern nur in einem allenfalls akzidentellen Sinne sein, z.B. indem sie auf Themen, die für die Theologiestudierenden von besonderem Interesse sind, historisch und systematisch besonderes Gewicht legt.

    Das bringt mich gerade zu der nächsten Frage. Wie Sie gerade erwähnt haben, publizieren Sie auch in verschiedenen Zeitungen und Magazinen, beispielsweise in der NZZ, der Luzerner Zeitung, der Schweizer Kirchenzeitung oder auch dem Schweizer Onlineportal philosophie.ch. Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Philosophieprofessor in der Öffentlichkeit?

    Ich habe mich jahrelang bemüht, auch die exoterische Seite der Philosophie zu pflegen, sei es in Gymnasien, in Kursen der Volkshochschule, an Seniorenuniversitäten oder der philosophischen Akademie in Luzern und habe, auch für interessierte Laien, eine Einführung «Philosophische Grundbegriffe» geschrieben, die in mehrere Sprachen übersetzt worden ist. Seit 20 Jahren bin ich auch Experte für Philosophie im Schwerpunktfach «Philosophie und Psychologie-Pädagogik» (PPP) an den Maturitätsschulen des Kantons Luzern. Ein vom Staat besoldeter Philosophieprofessor hat m. E. auch eine exoterische Öffentlichkeitspflicht.

    Die Figur des öffentlichen Intellektuellen war in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch hoch angesehen – als Beispiel könnte man Bertolt Brecht nennen. Wie hat sich, in Ihrer Wahrnehmung, diese Figur bis heute entwickelt? Und welche Rolle spielen dabei Philosophinnen und Philosophen?

    In der Tat ist die Figur des öffentlichen Intellektuellen mit wenigen Ausnahmen, wie z. B. des Philosophen Jürgen Habermas, im deutschen Sprachraum im Rückgang begriffen. Stattdessen haben wir Experten, das heisst auch Spezialisten, die bekanntlich häufig nicht übereinstimmen, also wie z. B. in der Corona-Krise ein peer- disagreement vor Augen führen. Es findet so etwas wie ein Übergang vom Intellektuellen zum Experten statt.

    Also eine ähnliche Entwicklung wie bei der Steigerung und Verknappung von Publikationen in Wissenschaftsmagazinen.

    Ja. Es gibt freilich auch nennenswerte Ausnahmen, zum Beispiel in der Schweiz Michael Esfeld in Lausanne, der sich z. B. kritisch zu Corona-Massnahmen geäussert hat.

    Zum Schluss möchte ich Ihnen noch eine etwas offenere Frage stellen: Wie sehen Sie die Zukunft der Philosophie in der Schweiz? Was erhoffen Sie sich oder was befürchten Sie?

    Ich bin kein Prophet und es kann völlig überraschende Wendungen geben, die niemand vorhersagen kann. Aber ich antizipiere eher eine zunehmende Verwissenschaftlichung, das heisst auch Spezialisierung, der akademischen Philosophie, etwa im Sinne der «Stanford Encyclopedia of Philosophy». Das bedeutet aber auch einen sinkenden Stellenwert der akademischen Philosophie in der öffentlichen Debatte. Stattdessen aber haben wir eine «Hintergrundskultur» von öffentlichkeitswirksamen, häufig ideologisch angehauchten, ganz oder teilweise «umfassenden Lehren» («comprehensive doctrines»), um wieder einen Ausdruck von J. Rawls zu verwenden (vgl. Political Liberalism, Lecture 1, § 2, p. 13) Solche teilweise «umfassenden Lehren» wären z. B. Feminismus, Liberalismus oder Transgender-Theorien. Freilich gibt es keine scharfe dividing line zwischen «umfassenden» und nicht «umfassenden» Lehren. Aber ich kann die Zukunft der Philosophie in der Schweiz nicht antizipieren und bin für Überraschungen offen.

    Das war ein sehr interessantes Gespräch, und ich möchte mich noch einmal herzlich bedanken für Ihre Offenheit und Ihre Bereitschaft, an diesem Interview im Rahmen des Projektes teilzunehmen.

    Ich bedanke mich meinerseits bei Ihnen für Ihr Interesse und Ihr Engagement.

    Das Interview führte Marco Schori