"The Ray, Detail" (1727) von Jean-Siméon Chardin

„Coronakrise“ – Warum deren Abwendung Hinwendung bedeutet

Ein Überdenken der Coronakrise führt uns zu unserem Umgang mit Tieren. Ganz unabhängig davon, ist das Überdenken dieses Umgangs auch von höchster ethischer Relevanz.

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    Nichts ist aktueller als die Corona-Pandemie. Zu deren akuter Eindämmung gefragt sind jetzt zuvörderst Medizin und Politik. Allerdings kommt man auch nicht umhin, die philosophische Frage zu stellen nach der Bedeutung dieses Ausnahmezustands unserer Menschenwelt, der ähnlich unheilvoll anmutet wie 1755 das Erdbeben von Lissabon. Kann uns diese Frage denn aber vielleicht auch weiterhelfen?

     

    Jeder wünscht sich, dass Corona ein Ende hat, dass alles wieder so gefahrenlos ablaufen kann wie vor der Krise. Aber wenn wir wollen, dass die Krise ein Ende hat, dann können wir nicht auf eine Zukunft nach der Krise hoffen, die so ist wie die Vergangenheit vor der Krise – indes wir müssen gerade diese Vergangenheit hinterfragen. Denn die Krise stellt weder eine plötzliche Naturkatastrophe noch ein göttliches Schicksal dar, sondern vielmehr eine widernatürliche Eskalation, die wir Menschen selbst verursacht haben. Sie hängt zusammen mit einem System unseres tagtäglichen Handelns, dessen natürliche Folge sie bloß ist. Eine der raren Stimmen, die man dazu in den Massenmedien hört, ist Dirk Steffens: „Die Frage war nur wann, niemals ob.“1 Zumindest ein paar mehr Stimmen kommen aus der Vegan-Szene. Im Interview mit dem Aktivisten „Earhling Ed“ gibt Arzt und Trophologe Michael Greger zu verstehen: „Predicting that there's gonna be another pandemic is like predicting the sun's gonna come up the next day - it's always when never if.“2 Die Krise trägt für jeden von uns eine individuelle Bedeutung. Aber was bedeutet sie auf allgemeiner Ebene, und was haben wir grundsätzlich zu ändern, wenn wir diese aktuelle Gesundheitskrise bewältigen und zukünftigen vorbeugen wollen? Worauf ich hinaus will, ist nicht allein ein Impfstoff, eine Sekundärprävention, mit der wir nur die Lücken eines brüchigen Systems stopfen können, sondern eine Primärprävention. Denn keine Folge lässt sich bewältigen ohne deren Hintergründe anzupacken.

     

    SARS-CoV-2 ist bloß Folge und bloß eine Folge eines Systems. Zu den Viruskrankheiten, die auf dieses System zurückzuführen sind, gehören neben COVID-19 auch HIV, Ebola, Schweinegrippe, vCJD, MERS und Nipah. Und dieses System zu korrigieren wäre Primärprävention. Mit dem System, um das es sich dabei handelt, möchte ich kein partikulares System wie das kapitalistische oder christliche System ansprechen – vielmehr handelt es sich um ein System, das letztlich in jegliche Systeme in der einen oder anderen Weise verwoben ist, sofern mit ihnen auf die eine oder andere Weise eine anthropologische Selbstbestimmung zum Ausdruck kommt: Ich meine das System unserer anthropozentristisch ausgerichteten „Mensch-Tier“-Beziehungen.

     

    Emmanuel Macron umschreibt die Corona-Situation als einen „Gesundheitskrieg“3. Was diesen Krieg freilich von anderen unterscheidet, ist seine Subtilität. Sie macht es schwierig, die Bedrohung zu erkennen – derart, dass allerorts noch oder wieder naiv mit der Situation umgegangen wird; etwa wenn Spielplätze wieder eingenommen werden, oder wirtschaftliche Aspirationen (freilich unter dem Deckmantel sozialer Fürsorge) gegenüber Vorsichtsmaßnahmen stark gemacht werden. Letzteres ist aber auch eine Form des Ausdrucks dessen, was unser Gesundheitskrieg mit anderen Kriegen gemeinsam hat: Wir sehen das Übel dahinter nicht, scheuen uns davor, unserem Verhalten auf den Grund zu gehen.

     

    Ob der spezifische „Ursprungsort“ von SARS-CoV-2 bei Schuppentieren des hygienisch miserablen Fisch- und Wildtiermarkts Wuhan liegt, bei Fledermäusen eines daran angrenzenden Labors, oder bei der chinesischen Marderhund-Industrie, steht bislang noch in Frage. Was aber Fakt ist, ist, dass an die 75 Prozent der in den vergangenen Jahrzehnten mit bislang medizinisch ungekannter Geschwindigkeit neu auftretenden und wiederkehrenden Seuchen ihren Ursprung in unserem ausbeuterischen Umgang mit Tieren haben.4 5 Die betreffenden Seuchen entstehen und breiten sich aus in Agraranlagen, Schlachthöfen, Zuchtbetrieben, Tiermärkten, Versuchslaboren und weiteren Orten, an denen Tiere naturwidrigen Bedingungen ausgesetzt sind, um von Menschen missbraucht zu werden. Dort, wo Tieren ihre von Natur aus gegebene Freiheit genommen wird, wo Lockdown für Tiere zur Normalität geworden ist und in der Regel bis ans Lebensende bleibt, oder wo Tiere gar niemals eine andere Realität erlebt haben, weil sie in einen Lockdown hineingeboren wurden. Die an diesen Orten herrschenden widrigen Bedingungen sind wahre Brutstätten für neuartige Pathogene sowie anfällig für Virus-Mutationen. Sie erhöhen damit die Gefahr, dass Pathogene vom Tier auf den Menschen überspringen können und die Wahrscheinlichkeit der Entstehung tödlicher Zoonosen mit Pandemie-Potenzial. Obendrein kommt durch die gängige Fütterung von Nutztieren mit Antibiotika die in medizinischer Hinsicht fatale Generierung multiresistenter Pathogene hinzu.6

     

    Gewiss, gegen zoonotische Krankheiten können wir uns niemals vollständig absichern, da auch Verhältnisse, in denen keine direkte Ausbeutung von Tieren stattfindet, stets eine Chance in sich tragen, dass Pathogene von Tieren an Menschen übertragen werden. Allerdings liegt das Risiko für die Entstehung sowie potenzielle Heftigkeit zukünftiger zoonotischer Ausbrüche beträchtlich höher, wenn Tiere Bedingungen ausgesetzt werden, die dem Sein der Tiere widerstreben.7 Besonders augenfällig zustande kommen derartige Bedingungen in der industriellen Massentierhaltung. Aber zwei Drittel der Zoonosen stammen von Wildtieren.8 Und zur Entstehung epidemischer Krankheiten kam es bereits vor etwa 10.000 Jahren als wir begannen, Tiere, und damit auch deren Pathogene und Krankheiten, zu domestizieren.9 Wenn wir Zoonosen vorbeugen wollen, müssen wir bereits dort ansetzen, wo Ausbeutung beginnt – bei der Domestikation von Tieren als solche, bei Aktivitäten, die die Lebensräume von Tieren massivst chaotisieren (wie etwa die Regenwald-Abholzung), und bei der Jagd von und den Handel mit Wildtieren. Ausbeutung herrscht in der industriellen Massentierhaltung, wo die Reproduktion von Tieren künstlich zwecks menschlichen Eigennutzens hochgetrieben wurde. Sie beginnt aber bereits dort, wo etwa dem „Freiland“-Huhn das zur Ausbrütung vorgesehene Ei weggenommen wird, und herrscht auch dort, wo dem Hasen das Fell entrissen wird, das Pferd im Trab marschiert, die Ratte als Versuchsobjekt vernutzt wird...

     

    Infolge unseres blinden Anthropozentrismus und diktatorischen Wahn-Willens zur Macht übergehen wir den Willen von Tieren. Dass sich dieser disharmonische Deal nicht mit der Natur vereinbaren lässt, weil er sich nicht mit der Natur von Tieren verträgt, zeigt sich an den unheilvoll rückwirkenden Konsequenzen: „Our exploitation of non-human animals in turn kills us as well“.10 Unser Umgang mit Tieren ist dabei „krank“, weil er aus Speziesismus entspringt – einer Geistesverfassung, die in dem Sinne illogisch ist, dass sie die natürliche Gegebenheit verkennt, dass jedes Tier aufgrund seiner Erlebensfähigkeit für sich selbst genauso von Bedeutung ist wie jeder von uns für sich selbst.

     

    Die Überwindung unserer selbst verschuldeten Seuchen erfordert demnach weltweit eine radikale Korrektur unseres Tier-Verhältnisses, was wiederum eine Besinnung unserer Wahrnehmung von Tieren bedeutet, die von höchster Dringlichkeit auch in ethischer, von unserem eigenen Vorteil unabhängiger Hinsicht ist. Tiere wurden nicht als Besitztümer geboren – das wissen wir; aber in einer Welt, in der das auf der Strecke gebliebene Rinderbaby hinter der uns anlachenden lila Kuh unsichtbar geworden ist, hat sich über dieses Wissen ein kunterbunter Schleier gelegt. Die Abwehr gegen das Unheilvolle bedeutet im aktuellen Fall der Coronakrise in der Tat auch eine Hinwendung: zu den Tieren als Subjekten.


    1 Dirk Steffens bei: Markus Lanz, Folge 1377, 9.4.2020.

     

    2 Greger, Michael: „Pandemics. History and Prevention“, nutritionfacts.org/video/pandemics-history-prevention/, 27.3.2020 (18.5.2020).

     

    3 Emmanuel Macron in einer TV-Ansprache am 16.3.2020, zitiert bei: sz.de/dpa.urn-newsml-dpa-com-20090101-200316-99-353511 (18.5.2020).

     

    4 Vgl. Haferbeck, Edmund: „Tierausbeutung und Seuchen“, klamm.de/blog/tierausbeutung-und-seuchen-441005W1048.html, 14.4.2020 (18.5.2020).

     

    5 Laut CDC stammen drei von vier dieser Seuchen von Tieren (CDC: „Zoonotic diseases“, cdc.gov/onehealth/basics/zoonotic-diseases.html, 14.7.2017 (18.5.2020)), und die WHO, FAO und OIE warnten bereits, dass die Intensivierung von Landnutzung und -wirtschaft infolge der weltweit steigenden Nachfrage nach tierischem Protein einen der Haupt-Risikofaktoren für die Entstehung einer Pandemie bildet (WHO: „Report of the WHO-China Joint Mission on Coronavirus Disease 2019 (COVID-19)“, who.int/…/who-china-joint-mission-on-covid-19-f…, 16.-24.2.2020 (18.5.2020); WHO/ FAO/ OIE: „Report of the WHO/FAO/OIE joint consultation on emerging zoonotic diseases. In collaboration of the Health Council of the Netherlands“, apps.who.int…/10665/68899/WHO_CDS_CPE_ZFK_2004.9.pdf, 3.-5.5.2004 (18.5.2020)).

     

    6 Vgl. Haferbeck.

     

    7 Vgl. Winters, Ed (alias Earthling Ed): „Coronavirus. How did it really start and how do we stop it from happening again?“, surgeactivism.org/covid19, 27.3.2020 (18.5.2020).

     

    8 Vgl. Steffens; Zur Rolle von Wildtieren als Viren-Überträger (und des Zusammenhangs mit Konsumgesellschaften dabei) vgl. auch Edward Holmes in Zitation bei: „Nicht das Schuppentier ist schuld, sondern der Mensch“, mdr.de/wissen/schuppentier-pangolin-uebertraeger-corona-100.html, 27.3.2020 (18.5.2020).

     

    9 Vgl. Greger. Laut Greger ist selbst die Erkältung auf unsere Domestikation von Tieren zurückzuführen.

     

    10 Winters.