Der Welle-Teilchen-Dualismus und wissenschaftliches Verstehen

Die zentralen Fragen in der philosophischen Debatte über Verstehen betreffen die Beziehung des Verstehens zu Wissen, Fähigkeiten, Modellen und Erklärungen.

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    In meiner Promotion setze ich mich mit dem Konzept des wissenschaftlichen Verstehens (scientific understanding) auseinander. Wie bin ich darauf gekommen und warum finde ich das so interessant? Vielleicht werden sich einige Leser an ihren Physikunterricht in der Schule erinnern, in dem möglicherweise der Welle-Teilchen-Dualismus von Licht ein Thema war. Was bedeutet Welle-Teilchen-Dualismus? Man hat in der klassischen Physik angenommen, dass Licht eine Welle ist, und mit dieser Modelvorstellung konnten sehr viele optische Phänomene erklärt werden. Dann kam Einstein und konnte mit seinem Experiment zum Photoelektrischen Effekt nachweisen, dass das Wellenmodell von Licht in diesem Experiment nicht funktioniert. Licht besteht aus einzelnen Lichtteilchen. Problematisch ist allerdings, dass man mit dem Teilchenmodell von Licht die bislang bekannten Phänomene, bei denen das Wellenmodell funktioniert, nicht erklären kann.

    Die Erklärung, die man in der Schule und auch im Physik-Bachelorstudium (was ich nach meinem Schulabschluss zuerst absolviert habe) für diesen Widerspruch bekommt: Licht hat sowohl Wellen-, als auch Teilcheneigenschaften und je nachdem, für welches Phänomen man sich interessiert, benutzt man eines der beiden Modelle. So hilfreich diese pragmatische Antwort im wissenschaftlichen Alltag auch sein mag, bleibt eine fundamentale Frage unbeantwortet: Was ist Licht? Wie kann Licht sich einerseits wie eine Welle (eine sich im Raum ausbreitende Störung, die keine Masse, sondern nur Energie transportiert) und andererseits wie ein Teilchen (ein räumlich stark eingegrenztes Objekt, das eine Masse besitzt) verhalten? Wie passt das zusammen, wie kann man das verstehen? Verstehen wir vielleicht noch gar nicht, was Licht ist, weil wir uns dieser beiden Modelle von Licht behelfen müssen, von denen wir wissen, dass beide nicht wahr sind? Diese und ähnliche Fragen waren es, die mich nach meinem Bachelorabschluss in Physik in die Wissenschaftsphilosophie und schließlich zu meinem Promotionsthema geführt haben.


    In der Wissenschaftsphilosophie wird Verstehen erst seit etwa 20 Jahren als ein zentrales epistemisches (auf Wissen oder Erkenntnis bezogenes) Ziel der Wissenschaft angesehen. Menschen praktizieren Wissenschaft, weil sie ihre Welt und die Phänomene, die sich in ihr abspielen, verstehen wollen. Inzwischen erkennen Philosophen die zentrale Funktion des Verstehens in der Wissenschaft, aber auch im Allgemeinen, und der Fragenkatalog in Bezug auf Verstehen wächst beständig. Interessanterweise ist Verstehen im Allgemeinen im selben Zeitraum auch als neues und spannendes Thema in der Erkenntnistheorie aufgekommen und die beiden philosophischen Disziplinen führen einen regen Austausch miteinander.

    Welche Themen werden in der philosophischen Debatte zu Verstehen diskutiert? Die Gruppe der Philosophen, die zu Verstehen arbeiten, lässt sich grob in zwei Lager unterteilen: Für die einen ist Verstehen eine bestimmte Fähigkeit (skill)1, die anderen sehen in Verstehen eine Art von Wissen2. Eine weitere Diskussion betrifft verschiedene Arten des Verstehens, insbesondere explanatorisches Verstehen (explanatory understanding), das auf einer Erklärung beruht oder das Verstehen, warum etwas der Fall ist3, und umfassendes Verstehen (objectual understanding), das Verstehen eines Phänomens in seiner Gesamtheit oder eines ganzes Themenkomplexes4. Wie sich diese Arten von Verstehen zueinander verhalten und ob Verstehen notwendigerweise Erklärungen bedarf, sind diskutierte Themen. Eine weitere zentrale Frage ist, welche Bedingungen für Verstehen erfüllt sein müssen. Einige Autoren argumentieren, dass Verstehen faktisch (factive) sein muss, dass die Kenntnis wahrer Aussagen notwendig ist, um ein Phänomen zu verstehen5. Aber Fälle aus der Wissenschaftsgeschichte deuten darauf hin, dass auch Falschheiten Verstehen ermöglichen. Noch wichtiger ist, dass Falschheiten wie Modelle oder Idealisierung eine zentrale und unverzichtbare Rolle in der aktuellen wissenschaftlichen Forschung spielen6 (wie im Fall der Lichtmodelle).


    Die zentralen Fragen in der philosophischen Debatte über Verstehen betreffen daher die Beziehung des Verstehens zu Wissen, Fähigkeiten, Modellen und Erklärungen. An diesem Punkt setzt mein Promotionsprojekt an. In meiner Dissertation entwickle ich eine philosophische Theorie des wissenschaftlichen Verstehens. Dafür habe ich auf der Grundlage einer Analyse der philosophischen Literatur zum wissenschaftlichen Verstehen eine vorläufige Charakterisierung von wissenschaftlichem Verstehen formuliert:


    Wissenschaftliches Verstehen eines Phänomens ist eine kognitive Disposition, Wissen, Fähigkeiten und Erklärungen zu kombinieren, die es ermöglicht, neues Wissen, neue Fähigkeiten und neue Erklärungen zu generieren.

     

    Das bedeutet, dass Wissenschaftler in der Lage sein müssen, Wissen, Fähigkeiten und Erklärungen, die ihnen zur Verfügung stehen, in einem kognitiven Prozess, der diese Ressourcen verbindet, anzuwenden. Verstehen ist keine Form von Wissen. Eine Person kann viel Wissen über ein bestimmtes Phänomen haben und dennoch überhaupt nicht verstehen, was vor sich geht. Aber Wissen ist notwendig für Verstehen in dem Sinne, dass eine Person ein Phänomen nicht verstehen kann, wenn sie nichts darüber weiß. Ich betrachte Wissen als propositional (den Inhalt eines Satzes betreffend) und subsumiere Konzepte wie Naturgesetze, Theorien oder empirische Daten unter dem Begriff Wissen. Fähigkeiten spielen beim Verstehen auch eine Rolle, und im Gegensatz zu meinem Verständnis von Wissen sehe ich Fähigkeiten als nicht propositional an. Der Begriff skill umfasst sowohl materielle Praktiken als auch kognitive Fähigkeiten. Je nach Fachrichtung erlernen die Wissenschaftler bestimmte Fähigkeiten, z. B. ein bestimmtes Instrument oder Messgerät im Labor zu bedienen, oder auf eine bestimmte Weise zu argumentieren. Die skills, die Wissenschaftler entwickeln, formen das erworbene Verstehen. Schließlich sind Erklärungen notwendig für wissenschaftliches Verstehen. Ich nehme eine sehr schwache Charakterisierung von Erklärung an, die jede Erklärung als ein Argument betrachtet, das das zu untersuchende Phänomen mit dem verfügbaren theoretischen und empirischen Hintergrundwissen verbindet. Dies erlaubt einer Vielzahl von Erklärungsmodellen, Verstehen zu ermöglichen, und trägt somit der historischen und disziplinären Vielfalt der Wissenschaft Rechnung.

    Ich stehe noch am Anfang meine Promotion und werde mein Konzept von Verstehen in vielerlei Hinsicht noch genauer ausarbeiten. Zunächst werde ich präzisieren, was ich mit dem Begriff „skill" im Kontext von Verstehen genau meine. Ich werde auch näher untersuchen, wie Modelle im Allgemeinen das wissenschaftliche Verstehen beeinflussen. Da es mein Ziel ist, eine Darstellung von wissenschaftlichem Verstehen zu entwickeln, die der tatsächlichen wissenschaftlichen Praxis entspricht, reicht es nicht aus, nur die philosophische Literatur zu analysieren. Zusätzlich werde ich Fallstudien in zwei zeitgenössischen wissenschaftlichen Disziplinen durchführen, nämlich über den Einsatz von Modellorganismen in der Biologie und von Computersimulationen in der Klimaforschung, um Verstehen zu gewinnen. Schließlich werde ich die philosophische Debatte über wissenschaftliches Verstehen mit den Debatten über epistemische und nicht-epistemische (nicht auf Erkenntnis bezogene, z.B. religiöse, politische, ästhetische) Werte in der Wissenschaft in Verbindung bringen. Würden Wissenschaftler ein Phänomen immer noch auf die gleiche Weise „verstehen", wenn sie verschiedene Werte vertreten?


    1 Vgl. De Regt, H. (2017), Understanding Scientific Understanding. New York, Oxford University Press; Elgin, C. Z. (2017), True Enough. Cambridge, MA, and London, MIT Press.

     

    2 Vgl. Khalifa, K. (2017), Understanding, Explanation and Scientific Knowledge. Cambridge, Cambridge University Press; Lipton, P. (2009), “Understanding without explanation.” In H. W. de Regt, S. Leonelli & K. Eigner (Eds.), Understanding: Philosophical Perspectives (pp. 43-63). Pittsburgh, University of Pittsburgh Press.

     

    3 Vgl. De Regt (2017); Khalifa (2017).

    4 Vgl. Elgin (2017); Kvanvig, J. L. (2009), “The value of understanding.” In A. Haddock, A. Miller & D. Pritchard (Eds.), Epistemic value (pp. 95-111). Oxford, Oxford University Press.

     

    5 Vgl. Kelp, C. (2016), “Towards a Knowledge-Based Account of Understanding.” In: S. R. Grimm, C. Baumberger & S. Ammon (Eds.), Explaining Understanding. New Perspectives from Epistemology and Philosophy of Science (pp. 251-271). New York and London, Routledge; Kvanvig (2009)

     

    6 Vgl. Elgin (2017); Reutlinger, A., Hangleiter, D. & Hartmann, S. (2018). „Understanding (with) Toy Models.” British Journal for the Philosophy of Science, 69(4), pp. 1069-1099.