Beitrag von H.H.J.Luediger

Das Ding-an-sich: real, transzendental oder was?

Das Ding-an-sich ist entweder das rationale Ding wie es uns im weitesten Kontext bedeutungsvoller Sätze erscheint oder ein größter anzunehmender sprachlicher Unfall außerdem.

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    Das Ding-an-sich gehört zu Kants berühmtesten aber auch umstrittensten Wortschöpfungen, bzw. Konzepten. Wie und was das Ding-an-sich sei, darüber können wir laut Kant nichts wissen, sondern nur wie es uns erscheint. Damit war die Skepsis, die Descartes im Vertrauen auf einen nicht betrügenden Gott überwunden hatte, wieder in der Welt – und vehementer als je zuvor. Es gibt aber auch eine andere Lesart, die ich hier ausbreiten werde, nach der es Kant unternimmt den sprichwörtlichen Kartesischen Zweifel in gewisser Weise der Subjektivität des individuellen Zweiflers zu entheben und in der Form absolut und prinzipiell unbeantwortbarer Fragen zum Gütesiegel menschlicher Vernunft zu befördern:

    Die menschliche Vernunft hat das besondere Schicksal in einer Gattung ihrer Erkenntnis: dass sie durch Fragen belästigt wird, die sie nicht abweisen kann; denn sie sind ihr von der Vernunft selbst aufgegeben, die sie aber auch nicht beantworten kann; denn sie übersteigen alles Vermögen der menschlichen Vernunft. (KrV, Vorrede)

    Meine Hervorhebung macht klar, dass Kant hier nicht feuilletonistisch über ‚letzte unbeantwortbare Fragen‘ schwadroniert, sondern den Kernaspekt seiner Erkenntnisphilosophie vorwegnimmt: die Vernunft verfährt im Sinne der synthetisch a priori gültigen Einheit der Erfahrung, nicht nach logischen Regeln der Integration oder reduktionistischer Gundlegung. Die Vernunfteinheit ist für Kant der Hinterfragung unzugänglich: ...ich musste also das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen…. Kant war vielleicht als einzigem Denker seiner Zeit klar, dass Newtons Gesetze a priori gültig (in seinem Sinne ‚vernünftig‘) sind, d.h. weder aus der Beobachtung abgeleitet noch auf die Erfahrung reduziert werden können, dass man sich ihrer zwar durch Anschauung versichern kann, ohne sie jedoch demonstrieren (herleiten) zu können. Diesen Status können z.B. Einsteins Feldgleichungen nie erreichen, denn man kann sich ihrer nicht versichern weil sie unanschaulich sind, d.h. keinen vernünftigen (a priori) Bezug zur menschlichen Erfahrung haben – Begriffe ohne Anschauungen [wie etwa ‚Raumzeit‘] sind [schlicht] leer.

    Während die Scholastik und selbst noch der Rationalismus die Skepsis mit Verweis auf die Allmächtigkeit und Güte Gottes hatte verstummen lassen, ist es für Kant die unhintergehbare Struktur der Erkenntnis, in der das transzendentale Subjekt denkt. Wer oder was ist Kants transzendentales Subjekt? Kant selbst kann darüber aus systemimmanenten Gründen nicht mehr sagen als dass es das Subjekt ist, welches das empirische, nämlich das sinnliche, zweifelnde bzw. neugierig hinterfragende Subjekt erkennt. Seine Zeitgenossen Hamann, Herder und W. v. Humboldt wagen sich deutlich weiter aus der Deckung: Nur Welt ist wo Sprache ist, von wo aus es nicht weit zu Wittgensteins Das Ende meiner Sprache ist das Ende meiner Welt und zu Heideggers Sprache als Haus des Seins ist. Damit ist aber hier nicht die (im Linguistic Turn) häufig unterstellte logisch-formale Struktur der Sprache zu verstehen (die ich als dezidiert nicht-logisch diskutieren werde), sondern die Sprache, die einen nicht unbedeutenden Grad an Unabhängigkeit von ihren individuellen Sprechern aufweist, denn ‚sie‘ verwirft, modelliert, transformiert, generalisiert, differenziert und strukturiert ohne dass diese über Generationen sich erstreckenden Prozesse je an Einzelpersonen festgemacht, auch nur ansatzweise beobachtet oder theoretisierend in ein Schema gezwängt werden könnten. Ich werde also dieses autorlose, autonome Element der Sprache als transzendentales Subjekt Kants interpretieren – als transzendentales Wir, welches das empirische Ich erkennt.

    Heute ist der Linguistic Turn zu Recht längst vergessen, und doch haben sich weder die Sprachwissenschaft noch ihr nahe stehende Forschungsbereiche von ihren paradigmatisch positiven (logisch-affirmativen) Methoden gelöst. Mit Chomsky, Pinker, Searle, Derrida und vielen anderen verkümmerte die Sprache zu einem formalen, logisch-komputationalen System, geriet ins Räderwerk der Psychologie bzw. allmächtiger Evolutionsbiologie oder wurde, als der wahren Entfaltung der Sinnenwelt nur im Wege stehend, zur Dekonstruktion freigegeben. Entsprechend entstand die analytische Philosophie durch Streichung des P-Worts aus dem Positivismus, um sich doch mit der logischen Strenge von Rechenmaschinen ins prozesshafte Klein-Klein der Begebenheit zu verabschieden, derweil sich die kontinentale Philosophie zum Denken des Undenkbaren verstieg, nämlich der individuellen oder kollektiven Existenz-in-der-Zeit. Die Frankfurter Schule schließlich verlegte sich auf die politisch-korrekte Führung antiautoritärer Diskurse, von denen in Ansehung des heilbringenden Konsenses (ein anderes Wort für Sprachkorruption) die Kantische Vernunfteinheit explizit ausgenommen war. So finden wir die Sprache zu Beginn des 21. Jahrhunderts vom Haus des Seins zum Medium der Argumentation und Agitation degradiert, d.h. zum Mittel der Formulierung und Durchsetzung von Ansprüchen an die Gesellschaft, das soziale Umfeld und nicht zuletzt das empirische Ich. Es ist nicht mehr das Wir der Sprache, das spricht, sondern eine Soldateska von Lobbyisten und Aktivisten sowie die medial verstärkten, selbsternannten Eliten ‚Kulturschaffender‘ und ‚Exzellenzwissenschaftler‘. Was hat all dies mit dem Kantischen Ding-an-sich zu tun?

    Quentin Meillassoux ist mit After Finitude (2006 im franz. Original) der vielleicht größte Aufmerksamkeitserfolg eines neuen, wenn auch diffusen philosophischen Genres gelungen, das sich als spekulativer, neuer oder auch neutraler Realismus bezeichnet. Dieser objektorientierte Realismus, der weitgehend eine Ontologie ist, entstand als Reaktion auf die mittlerweile notorisch gewordene Unhaltbarkeit poststrukturalistischen Gedankenguts, d.h. gegen einen naiv-humanistischen bzw. interdisziplinären Konstruktivismus, der sich allein durch statistische Messbarkeit als empirisch-wissenschaftlich legitimiert. Meillassoux sieht das Problem der Postmoderne in der Aufklärung angelegt, d.h. in dem was er Korrelationismus nennt, nämlich der mehr oder weniger expliziten Annahme der Unerkennbarkeit des Dings-an-sich in jeder namhaften Philosophie seit Kant, mit der Folge der Untrennbarkeit von Denken und Welt – jeder Welt wohnt schon immer ein Denken inne und jedem Denken eine Welt. Damit werden aber offensichtlich alle wissenschaftlichen Aussagen hinfällig, die die Welt vor dem Auftreten von Homo sapiens betreffen, denn ohne den erkennenden Mensch kann keine Welt sein. Meillassoux (als materialistischer Denker) führt also den Korrelationismus gegen die Denkmöglichkeit von Kosmologie, Geologie und der evolutionären Entstehung der Arten ins Feld, d.h. gegen die Hoheitszeichen eines jeden Materialismus. Entsprechend naht, nicht wirklich unerwartet, die rettende Kavallerie sogleich in der Form der Kartesischen Trennung von primären und sekundären Qualitäten des Objekts. Zu ersteren – den mathematisch erfassbaren und somit (nach Descartes) objektiv existierenden Qualitäten – zählt Meillassoux aus keineswegs überzeugenden Gründen auch das durch verschiedene physikalische Methoden bestimmbare Alter von Objekten. So glaubt er denn in der Mathematik (als formaler Sprache) den absoluten Zeugen einer den Korrelationimus überwindenden und jedes menschlichen Zutuns enthobener Wahrheit gefunden zu haben, als Nachweis des Stattgefundenhabens des Urknalls, der Formation des Sonnensystems, ersten biologischen Lebens und des Gewesenseins der Dinosaurier. Die Objekte und Methoden dieser Nachweise fasst er unter dem Begriff arche-fossils zusammen. Dabei zeigt er sich erstaunlich uninformiert bezüglich der nur beschreibenden Natur der Modelle der evolutionären, d.h. historisierenden Physik des 20. Jahrhunderts, die zur Altersbestimmung von Objekten bzw. Ereignissen herangezogen werden (z.B. Radionuklid-Methoden oder die Hubble-Rotverschiebung), zumal er mit Verweis auf diese empirischen Methoden bzw. Modelle nicht nur die Mathematik, sondern selbst die klassische Physik verlässt, denn diese kennen keinen Begriff der (historischen) Zeit. Meillassoux bezieht sich ironischerweise also auf genau das, was die Postmoderne schon immer ausmacht – konstruierte Zeitgestalten. Der direkte Zugang zum Ding-an-sich, den er sich von der Mathematik verspricht, bleibt aber genau aus diesem Grund in der menschgemachten Interpretation von menschgemachten Beobachtungen hängen, in einer (natur)gesetzlosen, konsensgetriebenen Physik nicht nur spekulativer sondern fantastischer Modelle und Narrationen. Damit aber nicht genug: in einer Argumentationskette (die auf Alain Badiou zurückgeht) gewinnt Meillassoux aus Cantors transfiniter Logik der Zahlen das Argument, welches es ihm erlaubt das Hyperchaos (die Notwendigkeit der Kontingenz) zu postulieren, das sich vom gewöhnlichen Chaos dadurch unterscheidet, dass sich buchstäblich alles, einschließlich der Dinge, der Logik und der Naturgesetze, jederzeit und grundlos ändern kann, denn das Hyperchaos entzieht sich, so Meillassoux, Leibnizens Satz vom hinreichenden Grund. Ich behaupte nicht diesem Gedankengang in all seinen Windungen folgen zu können, halte ihn aber trotzdem für falsch, weil sich Meillassoux der formalen Möglichkeit völlig-anderer-Welten (anderer Universen?) hingibt, die aber von der menschlichen Sprache kategorisch – nämlich als undenkbar – ausgeschlossen werden. Der Leser mag sich selbst von der Resilienz der Sprache überzeugen wollen, dadurch, dass allein schon die Formulierung eines absolut sinnlosen Satzes ein nicht ganz einfaches Unterfangen ist. Gegen das Hyperchaos spricht auch der erfreulich stabile Zustand der Welt, soweit historische Quellen darüber Auskunft geben. Wenn aber die Moderne dadurch gekennzeichnet ist Erwartungshorizonte sukzessive zu reduzieren (d.h. Wissen durch Information und Algorithmik zu ersetzen), dann scheint Meillassoux den letzten folgerichtigen Schritt zu tun, nämlich diesen Erwartungshorizont im Hyperchaos auf exakt Null zu reduzieren, womit das Kernproblem der (Post)moderne – ihr Versagen im Werden zu Etwas zu werden – im grundlosen Hyperchaos gegenstands- und folglich bedeutungslos würde. Damit wäre dann dem Missgeschick, dass die Sünde, als Verbot der Strukturlosigkeit, den Nietzscheanischen Tod Gottes unerwartet überlebte, endgültig abgeholfen.

    Einen anderen Weg geht Markus Gabriel, der zwar Einhörnern Realität zumisst, nicht aber der Welt. In seinem neutralen Realismus erscheint die Realität (reale Dinge) in Sinnfeldern, wobei die Frage nach der Legitimität von Sinnfeldern und der darin erscheinenden Dinge allerdings offen bleibt, bzw. sich gar nicht erst stellt, denn Sinnfelder gibt es, nach Gabriel, undendlich viele; sie scheinen nebeneinander, durcheinander und unabhängig voneinander zu existieren; vielleicht wertgeschätzt oder verworfen je nach Denker und Zeitgeist. Weiterhin bleibt es für mich ein unerfindliches Rätsel mit welchem Recht er Einhörnern Realität zu- und z.B. den Denkobjekten der Neurowissenschaft diese abspricht (obwohl ich bezüglich der interdisziplinären Neurowissenschaft in der Sache mit ihm einig bin). Seine Argumente scheinen sich gegen gewisse Sinnfelder zu wenden ohne dass aber dahinter ein Schema oder eine Systematik ersichtlich wird. Aber vielleicht ist er ja als analytischer Philosoph und Direktor eines ‚radically interdisciplinary Center for Science and Thought betriebsblind gegen den fundamentalen Webfehler einer jeden Interdisziplinarität, nämlich die aus der Hinterfragung der Vernunfteinheit resultierende Auflösung ihrer selbst. Gabriel erkennt zwar an, dass das Wissen auf Nichtwissen beruht, versteht beide aber als logische und damit analysierbare und diskutierbare Klassen anstatt sie konstitutiv aufeinander anzuwenden – und die Bücher (wie Sokrates) zu schließen. Wenn sein Rekurs auf das Nichtwissen nicht nur eine Geste philosophischer Bescheidenheit ist, sondern Einsicht in die Sinnlosigkeit der Hinterfragung des Cusanisch-Kartesisch-Kantischen dass, müsste er eingestehen, dass an dieser Stelle zwar nicht das Denken, aber doch die Logik und die Analyse zu Ende sind. Wenn er also die Skepsis logisch auseinander nimmt um ihr den Stachel des Relativismus/Solipsismus zu ziehen und der Realität ein wenig zum gewünschten Erfolg zu verhelfen, setzt er sich schon über das Nichtwissen-können des wie-des-Wissens, d.h. über die Kantische Vernunfteinheit hinweg. Obwohl Gabriel Descartes richtig als vieles aber nicht als rückhaltlosen Skeptiker sieht (denn er war sich seiner Sache absolut sicher), gelingt es Gabriel nicht die Skepsis als philosophisches Scheinproblem von der realweltlichen Sprachzensur abzutrennen, die nicht etwa das selbst-evidente Sein ins Visier nimmt, sondern die Begehrlichkeiten des empirischen Ichs gegen das transzendentale Wir. Das ‚logische‘ Besteck der wahren Zensur, die kein Dogma (positives Wissen) schützt sondern die unendliche Vielfalt und Tiefe des Seins (Ich werde auf diesen Punkt zurückkommen), ist die Reductio. Sie wertet auf der Basis des Ganzen der Sprache – der Vernunfteinheit der Erkenntnis – nicht auf der notwendig ideologisch verengten logischen Basis von wahr und falsch. Die Reductio hatte schon Aristarchs heliozentrisches Weltbild (3. Jh. v. Chr) zurückgewiesen, nicht etwa aus Gründen logischer Falschheit, sondern weil die Unverfügbarkeit der Begriffe der klassischen Mechanik (Trägheit, Erhaltungsätze, etc.) mehr irdische Ungereimtheiten (z.B. einen durch die Erddrehung notwendig hervorgerufenen permanenten Oststurm, der aber nicht beobachtet wurde) erzeugt als himmlische Probleme gelöst hätte. Das heliozentrische Weltbild des Aristarch wurde daher mit aus heutiger Sicht falschen Argumenten ad absurdum geführt – und doch völlig zu Recht! D.h. die Reductio verwirft mit Recht auf Wiedervorlage unter anderen Bedingungen. Der weiteste Kontext, der Menschen zugänglich ist, ist die um die klassischen wissenschaftlichen Disziplinen erweiterte natürliche Sprache (Hegel: nur das Ganze ist die Wahrheit). Dieses Ganze aber bleibt der Logik auf immer verschlossen, weshalb die Sprache nicht als Assemblage von Beschreibungen, Interpretationen oder Modellen eines vor- oder außersprachlich Gegebenen verstanden werden kann. Im Gegenteil, das Komplexitätsyndrom unserer (galoppierenden) Zeit ist ja genau das Resultat des gescheiterten Versuchs, anstatt die Dinge-für-uns, die Dinge-an-sich als reifizierte Entitäten in logisch-zeitliche Relationen zu setzen und unter algorithmische Regeln zu bringen. Komplexität ist daher nichts in der Natur Vorfindliches, sondern der Ausweis des Versagens der Zensur – des Immunsystems der Sprache. Es lässt idealerweise nur passieren was schon ist, d.h. jedes Neue muss sich in der Anschauung a priori als schon Seiend ausweisen; die Vernunft baut an, nicht neu! Die Absurdität der Postmoderne liegt nun darin, dass sich, in Umkehrung der Verhältnisse, die Welt im humanistischen Fortschritts- und industriellen Innovationswahn an unausgegorene und in der Regel zum Scheitern verurteilte Ideen adaptieren muss. Das Opfer dieser Parforcejagd ist die in Generationenzeiträumen ‚denkende‘ Sprache, denn sie ist nicht zu gestalten wie etwa ein Feng Shui Garten oder eine Sozialgesetzvorlage. Gabriels neutraler Realismus, indem er sich dem Parmenidischen ‚Einen‘ – der Welt – als ‚Sinnfeld-Zensur‘ verweigert, scheint mir daher der Versuch zu sein, die Postmoderne mit einer Prise Realismus aufzupeppen. Für eine gelehrte Empörungsrhetorik spricht auch Gabriels geistiger Bezugspunkt – Schelling – der durchaus als einer der Väter der dynamisch-holistischen Komplexität, d.h. des Romantisch-Systemischen, verstanden werden kann und daher eher den modernen Brandstiftern als der Feuerwehr zugerechnet werden muss. Der neutrale Realismus bleibt in der Repräsentation, in der dinglichen Logik gefangen und arbeitet sich an den un(be)greifbaren Dingen-an-sich und deren unbeherrschbaren Beziehungen zueinander ab. Bei Gabriel, wie bei seinen Mitstreitern Meillassoux, Harman und Ferraris bleibt der künstlich-künstlerische Prozess, das Flüssige und Grenzenlose – also die logische ‚Unvernunft‘ der Moderne – außerhalb jeder Kritik. Es war aber genau die Schwäche der schon immer objektzentrierten und zeitevozierenden Logik, die Hegel explizit kritisiert und dazu veranlasst hatte zur Dialektik fortzuschreiten, d.h. zur unhinterfragbaren vernünftig-gleich-gültigen Scheidung von Wissen und Anders-Wissen. Doch erst Paul Feyerabend sollte vollends klar werden, dass diese gleich-gültige Scheidung Inkommensurabilität statt polaren Widerspruch voraussetzt, d.h. die Orthogonalität von Wissen und Anderwissen. So standen sich z.B. in der klassischen Wissenschaft die Mechanik der Punktmassen, die Wellentheorie und die anorganische Chemie inkommensurabel gegenüber, verbunden nur durch die Erhaltungssätze. Diese ‚vernünftige‘ Konstellation wurde durch die Vereinigung der drei Theorien zur Quantenmechanik aufgehoben – mit der Folge ihrer Unanschaulichkeit, ihrer Paradoxien und Absurditäten.


    Wittgenstein hatte zunächst versucht die Sprache zu atomisieren um sie logisch zu rekonstruieren, bis er erkannte, dass die Logik nicht nur ein zu schmalspuriges System des Denkens, sondern auch ein Komplexität erzeugendes System ist. In seinem Spätwerk versteht er die Sprache (nach wie vor affirmativ) als einen Strauß von Regeln, von denen er glaubte, dass sie zwar beobachtbar aber nicht analysierbar sind. Aber würde nicht schon die Beobachtbarkeit voraussetzten, dass dieses System von Regeln endlich und der Mensch somit algorithmisch determiniert und unfrei ist? Zu genau diesem Schluss kommt Wittgenstein, nämlich der Illusion der Willensfreiheit, und zu keinem anderen Ergebnis kann logisch-affirmativ bestimmendes Denken führen, denn es projiziert das Sein notwendig auf die Zeitachse. Versuchen wir also einen negierenden Ansatz indem wir davon ausgehen, dass der Mensch negativen Sprach-Regeln folgt, d.h. Verboten versucht gerecht zu werden, wobei die komplementäre Negation dieser Verbote die unendliche Vielfalt und Tiefe menschlicher Erfahrung hervorbringt, die doch regelhaft und geordnet erscheint. Dann wären wir frei als unverwechselbare Individuen (der ersten Person) innerhalb dieser unendlichen Vielfalt und Tiefe des Seins, liberal aber in der logischen Negation jener Verbote, d.h. im affirmativen Ausbruch aus dem Sein ins Rauschen der Zeit und ins Rollen der Begebenheit. Wenn Quentin Meillassoux versucht die dem Korrelationismus scheinbar immanente Finitude durch einen mathematischen Hütchentrick zu entkommen, scheint sie mir in der natürlichen Sprache längst überwunden durch eine Art Anti-logik oder Anti-axiomatik, die in der Physik unter dem Begriff ‚Erhaltungssätze‘, in der Biologie als Verbot der Inter-Spezies Fortpflanzung (Despezialisierung) und in der Soziologie als Taboo bekannt ist. Diese Erhaltungssätze, Verbote oder Invarianzen stehen als Vernunfteinheit der Universalien aber einer letzte Gewissheiten auflösenden modernen Wissenschaft gegenüber, in der alle Bestimmungen notwendig in der Zeit zerfließen; der postmoderne Privatbilderreigen als solipsistisches Endstadium objektivistischer Sprachent-wir-ung?

    Kant hatte sich explizit gegen den Vorwurf, dass seine Transzendentalphilosophie zum Idealismus führe, verteidigt. Der Vorwurf lautete, dass es seiner Philosophie an objektiver Grundierung ermangele, d.h. die wahre Natur der Dinge in ihr letztlich unerreichbar bleibe. Nun geht aber die Sprache, d.h. der vollständige, bedeutungsvolle Satz im Kontext anderer bedeutungsvoller Sätze der Grammatik (800-400 v. Chr) um Jahrtausende voraus. Das aber heißt, dass das grammatikalische, in Raum und Zeit frei flottierende Objekt, aus dem sich der logisch-wissenschaftliche Objektivitätsanspruch letztlich herleitet, nicht nur chronologisch und genetisch nach dem Satz, sondern auch nur Teil des Satzes ist. Aber wie kann der Teil die Evidenzherrschaft über das Ganze übernehmen? Die ‚modernen‘ Wissenschaften geben uns die negative Antwort, denn in ihnen löst sich das Objekt (Ding) der Untersuchung sukzessive in Information auf, fällt aus allen Kontexten, aus der Sagbarkeit, aus der Anschauung und damit aus der Existenz ins Postulat und von dort in die Komplexität. Dann aber ist die Frage nach dem Sein des Dings-an-sich ein weiteres Scheinproblem der Philosophie, denn weniger als Nichts ist das Ding-an-sich, weil das Ding sich überhaupt erst im Gesamtkontext reflektiver Sprache aus dem Phänomen (dem kontextuell eingebetteten bedeutsamen Satz) herauskristallisiert. Wäre damit der Idealismusverdacht gegen Kants System entkräftet? Soweit er die Natur der Dinge angeht durchaus, allerdings unter Aufgabe der Idee eines Dings-an-sich. Damit richtet sich der Verdacht aber gegen die Sprache selbst. Türmt die Sprache die Welt vor uns auf oder beschreibt bzw. interpretiert sie eine außer- oder vorsprachliche Objektivität? Aber halt – die Objekt-ivität hatte sich schon als inferior gegenüber der natürlichen Sprache herausgestellt und das isolierte Ding – das Ding-an-sich – als umso weniger existent je objektivistischer sein Begriff.

    Wissenschaftler haben sich allerdings schon immer über die Ungefährheit der natürlichen Sprache beschwert, nämlich darüber, dass nicht zwei Menschen diese Welt mit exakt gleichen Augen sehen. Was die Welt der natürlichen Sprache in den Augen der Wissenschaft diskreditiert, ist die unvermeidliche Perspektive der ersten Person, der die Spätaufklärung glaubte durch Objektivität und Logik entkommen zu können. Der enorme Erfolg der klassischen Naturwissenschaft ist aber genau darauf zurückzuführen, dass ihre Gegenstände Dinge-für-uns waren bzw. sich ihre Theorien in genau jenen Dingen zeigten, die aus der Perspektive der ersten Person beobachtbar, manipulierbar, und somit schon in die natürliche Sprache eingebunden waren. Das aber heißt, dass z.B. Newton oder Maxwell die natürliche Sprache nicht überflüssig gemacht (objektiviert), sondern ihr etwas hinzugefügt haben, welches in ihr selbst nicht vorhanden war (weitere legitime ‚Sinnfelder‘?). Der Erfolg der klassischen Naturwissenschaft ist demnach in ihrer Anbindung an die natürliche Sprache begründet und folglich in der Perspektive der ersten Person. Entscheidend ist nun die Art dieser Anbindung; Kant hielt die Newtonschen Gesetze, im Gegensatz zur empirischen (modellierenden) Wissenschaft seiner Zeit, für nicht ‚abgezogen‘ oder ‚abstrahiert‘ von der beobachtbaren Welt, sondern als synthetisch a priori gültig. A priori bedeutet für Kant: vor der Erfahrung, d.h. rein jeder Empirik als Bedingung der Möglichkeit neuer ‚vernünftiger‘ Erfahrung, was ich an anderer Stelle mit orthogonal bzw. inkommensurabel ‚übersetzt‘ habe. Das Hinzufügen einer orthogonalen Dimension zum Sein macht diese nicht logisch-wahr, sondern Absolut-nicht-falsch, denn es macht sie Absolut unverbunden und aus diesem Grund Absolut widerspruchsfrei im Sinne strenger Dekorrelation (AB=0). Ich glaube, dass diese strenge Bedingung legitime von illegitimen ‚Sinnfeldern‘ trennt, denn nur erstere sind unvermischt oder ‚rein‘ im Sinne Kants. Das a priori steht der ‚vernetzten Vernunft‘, in der alles mit allem verbunden und voneinander abhängig ist, als diametral entgegensetzte Denkstruktur gegenüber, nämlich als reichlich ‚möblierter‘ Raum der Anschauung, in dem man sozusagen Sessel verschieben kann ohne dass deswegen der Tisch zusammenbricht oder die Tapete die Farbe wechselt. Wenn das Wissen der Sprache also eine quasi-räumliche Struktur hat, kann die Logik, die die Zeit selbst ist, nichts ‚Vernünftiges‘ über sie sagen. Aus diesem Grund können Computer prinzipiell nicht sprechen oder denken, sondern die Sprache nur simulieren. Das Problem der modernen Wissenschaften, als auch der Philosophie, liegt in der falschen Annahme, dass die Logik (außerhalb ihrer selbst) ein System des richtigen Schließens sei, nämlich im Verkennen der Tatsache, dass sie die unendliche Vielfalt und Tiefe des Seins zu banalen, zwangsläufig subjektiven!, d.h. dem Wollen unterworfenen Lego-Welten reduziert. Die Animation und Aufrechterhaltung dieser Lego-Welten erfordert einen exponentiell steigenden, auf Dauer nicht leistbaren Einsatz von physischer, administrativer und (z.B. ethisch) legislativer Energie. Und doch könnte das Spiel, das sich (Post)moderne nennt, durch den Verfall der Sprache zu dysfunktionalen Lego-Sprachen beendet werden, lange bevor die verfügbaren Ressourcen der Erde zur Neige gegangen sind.

    Wenn denn die ‚Welt‘ das Absolut unwidersprüchliche Ganze seiner synthetisch-a-priori-nicht-falschen (das Wahre wäre hier völlig fehl am Platz) Momente ist, z.B. der Universalien, Theorien, wissenschaftlichen Disziplinen und anderer legitimer ‚Sinnfelder‘, sowie der darin zwanglos erscheinenden Dinge, ist sie nicht nur unhintergehbar, sondern in ihrer kategorialen Unhinterfragbarkeit auch ‚real‘. Dieses ‚real‘ ist aber nicht das objektive ‚real‘ eines Physikalismus, Naturalismus oder neuen Realismus, sondern des rational Sagbaren – des Rationalismus. Das Ding-an-sich ist entweder das rationale Ding wie es uns im weitesten Kontext bedeutungsvoller Sätze erscheint oder ein größter anzunehmender sprachlicher Unfall außerdem.