von Manuel Güntert

Darf ich es wagen, das zu sagen?

Dieser Text zeigt, dass die Position desjenigen, der behauptet zu sagen, was andere nur denken, aber nicht zu sagen wagen, inkonsistent ist. Sie falsifiziert sich durch ihren eigenen "Erfolg".

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    Darf ich wagen, das zu sagen, fragt die deutsche Punkband Blut und Eisen Anfang der 80er Jahre. Sie fasst eine Figur ins Auge, von der derzeit öfters die Rede ist. Einiges dreht sich grad um ihn, um jenen verwegenen Haudegen, der sich traut auszusprechen, was viele nur denken, aber nicht zu sagen wagen. Die Punkband aus Hannover verweigert sich einer konkreten Antwort, ob das Wagnis denn möglich ist, allein das „Ich, ich und nochmals Ich“, das sie im Refrain wiederholt, liefert einen doch recht deutlichen Fingerzeig, um wen es jenem, der sagt, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, wirklich gehen könnte.

     

    Eigentlich stimmt man mir zu, das besagt diese Figur, aber man traut sich nicht, es auszusprechen. Ich dagegen, dies der Subtext, ich traue mich, das zu sagen, das andere sich nicht trauen. In diesem beherzten Eingriff bzw. Ausspruch wird eine Schweigespirale durchbrochen, weshalb das zu sagen, was derjenige sagt, der sie durchbricht, zu einem Wagnis erklärt – oder eher: ver-klärt – wird. Nun endlich wird etwas sicht-, hör- und/oder sagbar, das bis dahin im Verborgenen zurückgehalten worden ist – werden musste. Insofern irgendein Grund vorliegen muss, weshalb das, was bis zu dem Zeitpunkt, zu dem es endlich gesagt wird, nicht gesagt, sondern nur gedacht worden ist, überschreitet derjenige, der es sagt, die Grenzen des bisher Sagbaren und erweitert sie im selben Akt.

     

    So bezieht diese Figur sich auf eine schweigende Mehrheit, die weniger aktiv agiert, als sie passiv agiert wird. Ihren Einfluss nimmt – verliert – diese schweigende Mehrheit durch jene, die für sie in ihrem Namen das Wort an sich nehmen. Die schweigende Mehrheit schweigt solange, bis ihr Schweigen eben in einem mutigen Akt des Aussprechens dessen, was sich da anscheinend in so vielen Gedanken vergraben hat, gebrochen wird. Wer das ausspricht, profitiert eigentlich von der Existenz einer schweigenden Majorität. Ihre Existenz allein erlaubt es ihm, die Position dessen einzunehmen, der ausspricht, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen. Ohne sie könnte er nicht derjenige sein, als der er sich ihr offenbart. Ohne ihr Schweigen wäre sein befreiender Akt nicht ausführbar.

     

    Dieser befreiende Akt wendet sich also gegen Zwangsmittel, die gegen den Aussprechenden und all die anderen gerichtet zu sein scheinen, die ebenso geschwiegen haben, wie er selbst geschwiegen hat. Diese Zwangsmittel scheinen ihnen allen das Aussprechen dessen, was sie eigentlich aussprechen wollen, erschwert oder sogar verunmöglicht zu haben. Ebendeshalb besteht umgekehrt immer auch die Möglichkeit, diese Zwangsmittel zu überzeichnen, um die eigene Sprechposition zu akzentuieren.

     

    Evident wird ein Missverhältnis: Denn wenn eine schweigende Mehrheit schweigt, bleibt letztlich unklar, was ihre einzelnen Vertreter tatsächlich denken. Wer sich so der schweigenden Mehrheit annimmt, bedient sich gerne einer Argumentation ex silentio: Das Nicht-Äußern der Meinung, das Schweigen der schweigenden Mehrheit, wird als Zustimmung zu gerade der Meinung gewertet, die jener verlautbart, der für sie das Heft in die Hand nimmt, indem er ausspricht, was sie nicht aussprechen. Der drohende Fehlschluss liegt auf der Hand: Wenn jemand schweigt, woher soll man genau wissen, welche Meinung er wirklich vertritt? Man kann Annahmen über sein Schweigen treffen, man kann implizite Hinweise deuten, nur zu wissen, welche Züge eine zurückgehaltene Meinung wirklich trägt, ist einem dann doch nicht gegeben.

     

    Vielleicht wird eine Meinung schlicht deshalb nicht geäußert, weil sie als solche (noch) gar nicht existiert. Das Verhältnis zwischen dem, was nun offenbart worden ist, und dem, was da tatsächlich an Meinung im Verborgenen lag, ist kaum mehr nachzuzeichnen. Es könnte etwas ganz anderes gewesen sein als das, was letztlich ans Tageslicht gezerrt worden ist. Dem Außenbetrachter erscheinen die eigentlichen Kausalitäten dann verkehrt: Derjenige, der ausspricht, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, ist – eher – a posteriori zu dem geworden, als der er sich a priori angepriesen hat. In solchen Fällen sind jene, die von sich behaupten, sie würden aussprechen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, nicht wirklich jene, die sie behaupten zu sein, weil sie den Zustand, durch den sie erst werden, als was sie sich vorgängig verkaufen, eigenhändig hervorgerufen oder zumindest befördert haben.

     

    Wer das Schweigen bricht, spricht dann weniger aus, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, als jene, die sich nicht trauen zu sagen, was sie denken, sich von ihm angesprochen und repräsentiert fühlen. Sie glauben ihm und/oder fühlen sich gehört. Indem er einem eher vagen Unbehagen ein konkrete(re)s Antlitz verleiht, entwickelt sich mitunter der trügerische Eindruck, man habe schon längst genau das gedacht, was er ausspricht. Der Schweigebrecher schleicht sich gewissermaßen in das Denken (von Teilen) der schweigenden Mehrheit und gibt dem, was dort unausgesprochen brach liegt, eine fassbare(re) Gestalt; er modelliert ein „geistiges Rohmaterial“ nach eigenem Gusto (um). Den Zustand, von dem er vorgängig gesprochen hat, ist durch sein eigenes Wirken wenn auch nicht unbedingt hergestellt so doch zumindest verfeinert worden. Es kann verführerisch wirken: Wenn wir etwas, das gesagt wird, etwas, das uns behagt, das uns schlüssig, gar verführerisch erscheint, nicht vorsichtig prüfen, neigen wir vielleicht dazu, seiner Suggestivkraft zu erliegen und zu glauben, wir hätten schon lange gedacht, was uns eigentlich erst dadurch von sich einnimmt. Insbesondere dann neigen wir dazu, wenn wir vergleichbare Vorbehalte ohnehin schon mit uns herumschleppen und/oder uns das Gesagte irgend angenehm ist.

     

    Natürlich ist die Möglichkeit, dass jemand, der behauptet, er würde aussprechen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, tatsächlich das – zumindest ungefähr das – tut, nie ganz von der Hand zu weisen. Wäre dem so, dann gibt er den vielen, für die er spricht, tatsächlich die Stimme, die sie sich selbst nicht zu sein trauen. Durch die Wirkung, die erzielt wird, wird es schwierig, zu rekonstruieren, ob das, was er gesagt hat, auch wirklich von vielen gedacht worden ist, oder ob viele es nicht eher denken, weil er es gesagt hat. Das Fragezeichen über den eigentlichen Kausalitäten ist nie ganz wegzuwischen.

     

    Einer gewissen Scharlatanerie aber fällt jemand, der von sich behauptet, er würde aussprechen, was viele denken, aber nicht zu sagen, notwendig anheim. Denn ob er nun tatsächlich sagt, was viele denken, oder ob er jene, die ihm folgen, erst durch seine Rede davon überzeugt, dem sei so, wenn er das Denken einer schweigenden Mehrheit in seinen Dienst nimmt, dann hantiert er mit einer Entität, die er keinesfalls so gut kennen kann, wie er vorgibt, sie zu kennen. Die eigentlich zwingend nötigen Einblicke in die Köpfe aller jener, für die er spricht, stehen ihn nur bedingt offen. Wer demnach mit dem Anspruch antritt, auszusprechen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, verdreht Ursache und Wirkung immer zu einem gewissen Grad.

     

    Wenn eine etwaige Deckungsgleichheit zwischen einer nun offenbarten und einer vorher verborgenen Meinung schwer nachzuzeichnen ist, erscheint es aussichtsreicher, sich auf das performative Verhältnis zu fokussieren, in dem derjenige, der sagt, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, jenen gegenübersteht, für die er das – angeblich? – sagt. Denn er steht der schweigenden Mehrheit in einem seltsam doppeldeutigen Verhältnis gegenüber. Man richte diesbezüglich den Fokus auf das, was sein Sprechakt anrichtet: Sobald jene, die sagen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, tatsächlich Zustimmung dafür erhalten, dass sie das tun, können sie nicht mehr länger beanspruchen, das zu sein, als was sie sich präsentieren. Wenn die vielen, die das von ihnen Gesagte – ob real oder vermeintlich – gedacht haben, ohne es selbst zu sagen, ihnen beipflichten, sind sie offenkundig nicht mehr länger das, was sie vorgeben zu sein: Jene, die aussprechen, was viele denken, ohne es zu sagen wagen. Die Zustimmung, die sie dafür ernten, ausgesprochen zu haben, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, sorgt dafür, dass nunmehr viele das gesagt haben, was vermeintlich viele denken, aber nicht zu sagen wagen.

     

    Somit ist das, was viele denken, ohne es zu sagen wagen, nunmehr etwas, das viele sagen und damit nicht mehr länger etwas, das viele nur denken, ohne es zu sagen wagen. Jener, der es ausgesprochen hat, kann also nicht mehr länger widerspruchsfrei von sich behaupten, ebenjener zu sein, der ausspricht hat, was viele denken, ohne es zu sagen, wagen, und zwar gerade weil er ausgesprochen hat, was viele denken, ohne es zu sagen wagen und er Zustimmung dafür erhalten hat. Seine Sprech-Position falsifiziert sich durch ihren eigenen „Erfolg“. Nicht nur seine Position ist nicht mehr länger als diejenige haltbar, als die sie verkauft wird. Wenn eine schweigende Mehrheit Zustimmung artikuliert, büßt sie offenkundig ihren Status als schweigende Mehrheit ein. Denn wenn sie Zustimmung artikuliert, spricht sie und ist damit eine sprechende Mehrheit. Auch sie müsste sich in diesem Fall aus ihrer angestammten Position lösen.

     

    Bei einem Misserfolg erhält jener, der proklamiert, er würde auszusprechen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, schlechterdings keine oder nur wenig Zustimmung für genau diesen Akt. Wenn jener, der von sich behauptet zusagen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, nun keine Zustimmung dafür erhält, gesagt zu haben, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, dann war er offenkundig nie jener, der sagt, was viele denken, ohne es zu sagen wagen. Dass er keine Zustimmung dafür erhalten hat, zeigt ja, dass er keineswegs etwas gesagt hat, was viele denken, ohne es zu sagen wagen.

     

    Vorstellbar wäre noch ein Fall: Das, was der Schweigebrecher gesagt hat, ist tatsächlich so gewagt, dass niemand sich traut, ihm öffentlich zuzustimmen. Vielleicht trifft er auf heimliche Zustimmung, aber diese wird nicht artikuliert. Da die Reaktion der Öffentlichkeit darüber entscheidet, ob und inwiefern eine Meinung in den Diskurs eintritt, gerät dieser Schweigebrecher in Isolation. Er kann sich selbst zwar glauben lassen, man würde ihm heimlich zustimmen und die Angst, diese Zustimmung auch öffentlich zu artikulieren, sei der eigentliche Grund, weshalb man ihm nicht folge. Insofern kann er in seiner Isolation zwar behaupten, er sei wirklich jemand, der es gewagt hat, etwas zu sagen, was man nicht sagen darf, aber man wird das nicht überprüfen können. Bleibt der isolierte Schweigebrecher nun eher in Isolation, ist die Wirkung eigentlich die Gleiche, wie wenn er keine Zustimmung für seine Meinung erhält. Beharrt er dagegen darauf, dass seine Meinung heimlich geteilt wird und arbeitet er weiter daran, sie salonfähig zu machen, dann beginnt auch seine Position sich durch ihren eigenen Erfolg zu unterminieren.

     

    So oder so also verunmöglicht das Aussprechen dessen, das – angeblich oder tatsächlich – viele denken, aber nicht zu sagen wagen, jenen, die vorgeblich genau das tun, in jedem Fall weiter glaubwürdig die Position jener einzunehmen, die aussprechen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen. Sie neigen dazu, die Souveränität, die sie proklamieren, durch ihre Proklamation selbst herzustellen, mit Sicherheit aber werden sie durch ihre Behauptung entweder zu jenen, die sagen, was nunmehr viele sagen, oder zu jenen, die sagen, was nicht von vielen gedacht wird – wobei einem im Alltag diese Varianten gerne in Mischformen entgegentreten.

     

    Das leitet zur folgenden Quintessenz: Sobald das, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen, einmal postuliert worden ist, unterminiert es seine eigenen Grundlagen. Es kann genau das nicht mehr länger sein, das zu sein, es fortan zu Unrecht vorgäbe: das, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen. Die Position wird unhaltbar, sobald sie als solche verbal einmal fixiert worden ist. Zu sagen, was viele denken, aber nicht sagen wagen, diesem so waghalsigen Akt, steht bestenfalls ein schmaler Zeitstreifen zur Verfügung, in dem er Wahrheit für sich proklamieren kann.

     

    Es ist somit nicht zwangsläufig falsch, von sich zu behaupten, jemand zu sein, der sagt, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen – im Idealfall ist das Gesagte zu dem Zeitpunkt, zu dem es geäußert wird, vollständig wahr –, aber es wird falsch, das weiter zu behaupten, wenn einmal Zustimmung (oder Ablehnung) dafür geerntet worden ist. Spätestens dann kann es nicht mehr länger das sein, was es beansprucht zu sein. Allein: Das scheint ihre Verfechter nur bedingt davon abzuhalten, sie einzunehmen. Denn genau in dieser Inkonsistenz liegt der Erfolg jener begründet, die behaupten, zu sagen, was viele denken, aber nicht zu sagen wagen.