Blogbeitrag von Elias Moser

Das Recht auf Gesundheitsdaten

Ein philosophisches Argument gegen die freiwillige Übermittlung von Gesundheitsdaten an Krankenversicherungen

·

    In diesem Beitrag soll die Frage gestellt werden, ob es den Mitgliedern einer Krankenversicherung möglich sein sollte, freiwillig Daten über den eigenen Gesundheitszustand zu übermitteln. In der Schweiz versuchen bereits unterschiedliche Zusatzversicherungen mittels Prämienrabatten Anreize zur Übermittlung von Daten über die eigene körperliche Verfassung und die körperliche Auslastung und Betätigung zu schaffen. Anhand von digitalen Geräten wie bspw. Pulsmesser, Schrittzähler in Uhren oder Smartphones können u.a. die Anzahl getätigter Schritte und somit der ungefähre Kalorienverbrauch, aber auch der Blutdruck und die Schlafqualität gemessen werden. Diese Daten können direkt über das Internet an die Krankenversicherer weitergeleitet werden. Die Informationen lassen wiederum Rückschlüsse auf den Gesundheitszustand zu und letztlich auf das für die Versicherer relevante finanzielle Risiko, eine bestimmte Person zu versichern. Mit Blick auf zukünftige technologische Entwicklungen sind den Möglichkeiten zur Datenerhebung über die Gesundheit von Individuen kaum Grenzen gesetzt. Es ist somit nicht unrealistisch, dass die Krankenversicherer in Zukunft über sehr genaue Informationen über die Gesundheit ihrer Kundinnen und Kunden verfügen.

    Neben positiven Effekten für unser Gesundheitssystem könnte durch diese neuen technologischen Entwicklungen aber auch der Schutz gewisser Grundrechte empfindlich beeinträchtigt werden. Tangiert ist dadurch ein individuelles Recht auf den Schutz personenbezogener Daten. Die Bürgerinnen und Bürger demokratischer Rechtsstaaten geniessen einen Anspruch darauf, dass man nicht willkürlich Daten über sie sammelt, weitergibt und verwertet. Es stellt sich zunächst die Frage, welche Form dieses Recht aufweist: Wenn es den Versicherern nicht erlaubt ist, trotz Einwilligung der betroffenen Personen an diese Daten zu gelangen, handelt es sich bei diesem Recht um ein sog. unveräusserliches Recht (der Versicherten gegenüber dem Versicherer). Das Recht kann dann nicht freiwillig aufgegeben oder transferiert werden. Oder anders ausgedrückt: Die versicherte Person kann der Versicherung nicht mit rechtlicher Gültigkeit erlauben, die Daten zu erheben und zu nutzen. Wenn man sich also fragt, ob die Weitergabe gesundheitsbezogener Daten an Krankenkassen legitim sein sollte, stellt sich mit Bezug auf die Grundrechte die Frage, ob das Recht auf den Schutz personenbezogener Daten unveräusserlich sein soll.

    Bei der Rechtfertigung der Unmöglichkeit der freiwilligen Auslieferung von Daten über die eigene Gesundheit geht es um das Problem, dass dies eine Freiheitsbeschränkung darstellen könnte. Ein Individuum, das wohlinformiert und urteilsfähig ist und nicht unter Zwang steht, sollte in einem liberalen Rechtssystem grundsätzlich ihre eigenen Rechte an andere Individuen abgeben können. Und gerade diese Möglichkeit zur Aufgabe und Übertragung von Rechten stellt in Bezug auf die eigenen Daten für sich genommen ein eigenes Recht dar: Neben einem Recht auf Schutz von personenspezifischen Daten besteht auch ein sog. Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Letzteres beinhaltet die normative Forderung, dass die Individuen Kontrolle über ihre eigenen Daten besitzen sollen. "Kontrolle" bedeutet in diesem Kontext primär, dass gewisse Daten nicht an Dritte weitergegeben werden sollen und dass die Individuen verfügbare Daten über ihre Person wieder löschen können. Die Forderung nach Kontrolle kann aber auch in dem Sinn verstanden werden, dass das Individuum frei über die eigene Weitergabe der Daten verfügen können soll. Ist ein Recht auf den Schutz personenbezogener Daten unveräusserlich, stehen diese beiden Rechte im Konflikt. Die Freiheit des Individuums, seine eigenen Daten weiterzugeben, wird beschnitten.

    In einem philosophischen Argument versucht nun Russel Hardin zu rechtfertigen, dass in bestimmten sozialen Kontexten unveräusserliche Rechte moralisch notwendig sind.[1] Hardin erkennt das Problem der Freiheitsbeschränkung und versucht dennoch, ein liberales Argument zur Rechtfertigung unveräusserlicher Rechte zu liefern. Er bedient sich dazu folgenden Beispiels: Man kann sich einen Betrieb vorstellen, in dem alle Arbeitnehmenden gleich viel verdienen und die gleiche Anzahl Stunden pro Tag arbeiten. Sagen wir, neun Stunden. Es wäre nun möglich, dass eine Arbeitnehmerin mit der Betriebsleiterin aushandelt, dass sie sich bei selbem Lohn zu zehn Stunden Arbeit pro Tag verpflichtet. Auf den ersten Blick ist dies der Arbeitnehmerin freigestellt. Es handelt sich um ihre eigene Arbeitskraft, für welche sie den Preis selbst festlegen kann. Sie kann ihr Recht (nur neun Stunden arbeiten zu müssen) beliebig veräussern. Gemäss Hardin hätte dies allerdings eine schädliche Auswirkung auf die Gesamtheit aller Arbeitnehmenden. Durch dieses Angebot entstünde ein Konkurrenzdruck auf die anderen Angestellten, woraufhin jene gezwungen wären, ebenso zehn Stunden Arbeit zum selben Lohn anzubieten.

    Die Folge daraus kann auch als ein Problem kollektiver Handlungen bezeichnet werden: Durch die individuelle Verfügung der Arbeitnehmerin über ihr eigenes Recht entsteht eine ungesunde Konkurrenz, aufgrund welcher nunmehr alle Arbeitnehmenden mehr arbeiten müssen als zuvor. Zur Vorbeugung solcher kollektiven Handlungsprobleme, schlägt Hardin vor, gewisse Rechte als unveräusserliche Rechte anzuerkennen. Es soll den einzelnen Individuen nicht möglich sein, ihr Recht zu veräussern und somit der Betriebsleiterin zu erlauben, sie zu mehr als neun Stunden Arbeit pro Tag zu verpflichten. Dieses Beispiel ist nun auch auf den Fall der Datenauslieferung an Krankenkassen anwendbar. Denn es zeigt auf, inwiefern die Individuelle Handlung (die Verfügung über ein Recht) zu einem kollektiv unerwünschten Resultat führen kann.

    Indem ein Individuum sein Recht freiwillig aufgibt (die persönlichen Daten preisgibt), entsteht ein Druck auf die anderen Versicherten, ihm nachzuziehen. Dies aus zwei Gründen: Einerseits hat das Zurückhalten der Daten über den Gesundheitszustand nunmehr einen negativen Signaleffekt. Es ist nämlich davon auszugehen, dass zunächst nur die "gesunden Leute" ihre Daten freiwillig zur Verfügung stellen würden und dass die "ungesunden Leute" die nicht tun würden. Eine verschwiegene Person signalisiert somit dem Versicherer indirekt, dass sie sehr wahrscheinlich keinen gesunden Lebensstil pflegt oder gesundheitliche Probleme hat. Sie ist also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit ein "schlechtes Risiko" und eine ökonomisch rationale Versicherung wäre besser beraten, sie nicht aufzunehmen oder höhere Prämien zu verlangen.

    Andererseits versuchen die Versicherer mit finanziellen Anreizen, eine freiwillige Auslieferung der Daten zu erwirken. Eine Vergünstigung für jene, die ihre Daten zur Verfügung stellen, kommt allerdings einer Erhöhung der Prämie (oder zumindest einer Nicht-Vergünstigung) für alle anderen Individuen gleich. Sofern die Krankheitskosten mehr oder weniger gleich hoch bleiben, müssen die Einnahmeausfälle aufgrund von Vergünstigungen durch die nicht-verbilligten Prämien kompensiert werden. Es entsteht somit ein zusätzlicher finanzieller Druck, die Daten preiszugeben.

    Die Möglichkeit zur freiwilligen Weitergabe personenbezogener Gesundheitsdaten an Krankenversicherungen kann also zu einem Zustand führen, in dem alle Individuen gezwungen sind, ihre Daten zur Verfügung zu stellen, auch wenn sie dies nicht wünschen. Die Möglichkeit kann somit zu einem sog. kollektiven Handlungsproblem führen. Um diesem vorzubeugen, ist es gemäss der Anwendung von Hardins Argument auf die konkrete Frage gerechtfertigt, das Recht auf personenbezogene Daten über den eigenen Gesundheitszustand gegenüber Versicherungen als unveräusserliches Recht zu behandeln und somit den Versicherungen zu verbieten, diese Daten zu sammeln.


    [1] Hardin, Russel (1986): "The Utilitarian Logic of Liberalism" in: Ethics 97(1), S. 47-74.