Liebe und Moral

Moral kann nicht das Letzte im menschlichen Miteinander sein, sondern lebt von einer größeren Verheißung, auf die hin sie immer wieder überschritten werden muss: dem anderen in seiner Einmaligkeit gerecht zu werden.

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    Liebe ist in ihrem Kern ein Wohlwollen oder Gutheißen. Nach einer alten, auf Aristoteles zurückgehenden Definition besteht das Wohlwollen darin, der wertgeschätzten Person um ihrer selbst willen Gutes zu wünschen. Nach Thomas von Aquin gehört es zum eigentlichen Begriff der Liebe, dass die Liebenden das Gute der geliebten Person wollen: „Der Akt der Liebe strebt immer auf ein Doppeltes, auf das Gute, das man jemandem will, und auf den, dem man das Gute will; denn das heißt eigentlich jemanden lieben: ihm Gutes wollen.“

    Was macht nun aber ein Wohlwollen zur Liebe? Es ist, kurz gesagt, der gutheißende Bezug auf die Person, wie sie vor mir steht. Der eigentliche Grund der Liebe ist nicht die vernünftige Natur als solche, d.h. als abstrakt-intelligible, sondern die vernünftige Natur, wie sie sich in diesem ‚Jemand‘ unüberbietbar singulär und konkret-geschichtlich manifestiert: „Die Liebe gibt der geliebten Person die Möglichkeit, Person zu sein, und zwar auf eine einmalige, unverwechselbare Art Person zu sein“ (Robert Spaemann). Daher ist Liebe im Unterschied zur Achtung immer ein ganzheitlicher Akt, der emotional-sinnliche, volitionale und rationale Aspekte umfasst. Die Liebe entzündet sich, wie die Tradition sagt, an bestimmten schätzenswerten Eigenschaften der geliebten Person, um dann „vorzudringen zum Kern der Person, die hinter diesen Eigenschaften steht und sie trägt, zu dem wahren Subjekt jenes unausdenkbaren Aktes, den wir ‚Existieren’ nennen, zu dem innersten Selbst des Geliebten, welches bleibt, auch wenn die liebenswerten Eigenschaften längst verschwunden sein sollten, die, ganz zu Anfang einmal, so etwas wie ein ‚Grund‘ zur Liebe gewesen sein mögen“ (Josef Pieper). Das Lieben ist an diesem tiefsten Punkt unabhängig geworden von allgemeinen Eigenschaften, indem sie solche Eigenschaften, die unseren Charakter zweifellos konstituieren, singularisiert hat. Der andere wird immer mehr als der einmalig Andere erfahren. Die Liebe ist, so könnte man sagen, eine konkrete Anschauung dessen, was in der Moral (nur) allgemein-begrifflich zugänglich ist: dass jeder Mensch eine Person ist.

    Aber nicht nur das: Es wird erfahren, was es bedeuten kann, auf eine konkrete, unüberbietbar singuläre Weise Person zu sein – all der Reichtum aber auch die Abgründe menschlicher Subjektivität. Jeder Mensch ist erst einmal mit seinem gelebten Leben allein. Wie es sich anfühlt, ein bestimmtes Leben zu führen, kann nur ich selbst wissen. Mit diesem radikal singulären Selbstverhältnis sind zahlreiche Lasten und Leiden verbunden. Vor aller Gemeinsamkeit im Wollen und Tun ist Liebe daher erst einmal eine wechselseitige Anteilgabe und Anteilnahme an menschlicher Subjektivität. Liebende treten heraus aus ihrer egozentrierten Isolation: Indem die liebende Person in einer affektiven, kognitiven und volitional-praktischen Weise am Selbstsein der jeweils anderen Person Anteil nimmt, indem sie in das Leben des anderen im wörtlichen Sinn eingebunden wird, erfährt menschliche Egozentrizität eine Entschränkung. Ihre spezifischen Lasten und Leiden werden wechselseitig mitgetragen.

    Wenn man Liebe in diesem Sinn versteht, dann kann es im Prinzip keinen Konflikt mit der Moral und ihrer Orientierung an der Gemeinschaft geben. Die Liebe macht uns vielmehr sensibel für die Einmaligkeit jedes Menschen: „Der exklusive amor amicitiae aber steht tatsächlich nicht in Konkurrenz zu dem Gebot der Nächstenliebe gegen jeden, der durch die Umstände mein Nächster wird. Er gibt dieser Nächstenliebe vielmehr erst ihre Tiefe. Jeder nämlich hat Anspruch darauf, als wirklich wahrgenommen zu werden. Und zwar wirklich als diese einmalige Person“ (Robert Spaemann). Als endliches Vernunftwesen kann und soll ich jede Person achten, das gebietet mir die Moral. Ich kann aber nicht jeder Person als dieser einmaligen Person, in all dem Reichtum ihrer Subjektivität, wirklich gerecht werden. Daran besteht das Schicksal der Liebe endlicher Vernunftwesen: dass sie die Liebe als radikal partikulare Einstellung zur anderen Person nicht universalisieren können, dass sie mit ihrer Liebe verantwortungsvoll umgehen müssen. Wahrhaft zu lieben bedeutet daher immer auch, sich dieses Preises bewusst zu sein: Es gibt einen ordo amoris – anders kann man als endliches Vernunftwesen nicht lieben. Doch gerade aus dieser Einsicht ergibt sich, dass die Moral nicht das Letzte im menschlichen Miteinander sein kann, sondern von einer größeren Verheißung lebt, auf die hin sie immer wieder überschritten werden muss: dem anderen in seiner Einmaligkeit gerecht zu werden.