Grundzüge sozialer Integration

Über die Stabilität und Beschaffenheit einer sozialen Ordnung

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    Von «sozialer Integration» sprechen Sozialtheoretiker üblicherweise, um die Stabilität und strukturelle Beschaffenheit der internen Bindungskräfte einer sozialen Ordnung zu thematisieren. Der Integrationsbegriff ist damit semantisch eng verknüpft mit Begriffen wie «Solidarität», «Loyalität», «Einigkeit» und «Zusammenhalt». Als Mechanismus verlässlicher Handlungskoordinierung, der eine dauerhafte Vernetzung zwischen Fremden ermöglicht – und diese so zu einer einheitlichen Gruppe zusammenbindet– stellt das Phänomen der sozialen Integration einen Schlüssel zur Beantwortung einer elementaren Grundfrage der Gesellschaftstheorie dar: Wie ist soziale Ordnung möglich?1

    Schon Platon thematisiert das soziale «Band der Polis»2 in seiner «Politeia» als Aufgabe der praktischen Philosophie und findet damit ein wirkmächtiges Bild für das Motiv sozialer Kohäsion, das bis heute nicht bloß als theoretisches Problem virulent geblieben ist.3 Die Grundzüge sozialer Integration lassen sich in gebotener Kürze rekonstruieren, indem analytisch zwei intern zusammenhängende Problemfelder unterschieden werden: a) das Problem der Koordination und b) das Problem der Motivation.4

    a) Das Problem der Koordination rückt in dem Maße in den Vordergrund, wie bedacht wird, dass sich sachlich ineinandergreifende und zeitlich auf Dauer gestellte intersubjektive Beziehungen nur unter der Prämisse einer orientierungstiftenden, das heißt normativ verfassten sozialen Welt denken lassen. Die Existenz einer stabilen sozialen Ordnung ist demnach nur möglich, wenn es ihren Mitgliedern gelingt, ihre Handlungen sachdienlich zu koordinieren.

    b) Hingegen tritt das komplementäre Problem der Motivation in den Vordergrund, sobald der Tatsache Rechnung getragen wird, dass jede durch soziale Normen regulierte Ordnung auf die allgemeine Anerkennung und freiwillige Befolgung ihrer im Einzelfall häufig als persönliche Zumutung empfundenen Vorschriften angewiesen ist. Wechselseitige Verhaltenserwartungen sind nämlich erst dann wirksam institutionalisiert, wenn Anspruch und Wirklichkeit nicht allzu oft auseinandertreten. Mit anderen Worten muss sich auch das tatsächliche Verhalten aller Betroffenen überwiegend an den Regeln des sozialen Zusammenlebens orientieren.

    Nimmt man das Motiv sozialer Kohäsion unter diesen beiden sich wechselseitig ergänzenden Aspekten in Augenschein, stößt man auf ein komplexes Verhältnis von Individuierung und Vergesellschaftung, das sich nicht einseitig auflösen lässt. Soziale Integration «schafft gleichzeitig subjektive Orientierung und übersubjektive Orientierungssysteme, vergesellschaftete Individuen und gesellschaftliche Institutionen».5 Durch seine Partizipation an normierenden Praktiken erfährt sich der Einzelne als soziales Wesen mit eigenständiger Persönlichkeit.

    Ein soziales Gefüge von Menschen kann demnach in dem Maße als erfolgreich integriert gelten, als sich das überwiegende Handeln seiner Mitglieder durch eine zwangsfreie Orientierung an den Werten und Normen dieser Gruppe auszeichnet. Alle Mitglieder müssen zur Erfüllung der erforderlichen Aufgaben motiviert sein, die mit ihren jeweiligen Rollen verknüpft sind. Der Begriff der sozialen Integration bezeichnet damit einen Zustand, in dem die institutionalisierten Rollenerwartungen von den Betroffenen allgemein akzeptiert und kollektiv berücksichtigt werden. Zugespitzt formuliert, ist gelungene Integration danach «intrinsisch motivierter, selbstzweckhafter Vollzug gemeinschaftlicher Praxis.»6

    An dieser Stelle muss kaum betont werden, dass die skizzierte Vorstellung von sozialer Integration einen Idealtypus im Sinne Max Webers darstellt, der empirisch selten in Reinform auftreten dürfte.7 Mit Emile Durkheim lässt sich hier auch von «Solidarität» sprechen, die zwischen den Mitgliedern einer Gruppe bestehen muss, um ihre sozialen Bindungen verlässlich zu festigen. Das im solidarischen Zusammenhalt gestiftete Wir-Bewusstsein assoziierter Gruppenmitglieder erzeugt eine soziale Bindungskraft, in der die zwischenmenschlichen Beziehungen auf Gefühlen der Zugehörigkeit und Verbundenheit gründen statt auf manifester Gewalt oder strategischer Berechnung.

    Werden die sozialen Rollenarrangements einer Praxis hingegen weitgehend abgelehnt und die mit ihnen angestrebten Ziele ständig frustriert, ist dies Ausdruck einer sozialen Schieflage, in der sich das Solidaritätsgefühl und der mit ihm gestiftete soziale Zusammenhalt auflöst – die gesellschaftliche Ordnung desintegriert, das gemeinschaftliche Band reißt.

    Probleme der Desintegration zeigen in dieser Hinsicht ein doppeltes Gesicht: Sie stellen sich «von oben», das heißt aus struktureller Sicht der normativen Ordnung, als funktionales Problem dar, dass darin zum Ausdruck kommt, dass die Kooperation in Unordnung gerät und im schlimmsten Fall sogar ganz auseinanderfällt. «Von unten», aus Sicht der vergesellschafteten Individuen, stellt sich Desintegration außerdem als ein normatives Versagen der gegebenen Organisationsform dar. Die normativen Präsuppositionen, die als Akzeptanzbedingungen in die gesellschaftlichen Praktiken eingelassen sind, erscheinen aus dieser Perspektive als nicht (mehr) zustimmungsfähig. Das institutionalisierte Gefüge aus Normen und Werten gilt als delegitimiert. Desintegration heißt hier also, dass die Konsensgrundlage der normativen Strukturen beeinträchtig ist. Zugespitzt ausgedrückt: «Das faktische Auseinanderfallen der Gesellschaft wird davon ausgelöst, dass Individuen sich ungerecht behandelt fühlen.»8

    Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine erfolgreich integrierte Ordnung von ihrer kollektiven Akzeptanz abhängt. Diese Einsicht widerspricht nicht der Tatsache eines weltanschaulichen Pluralismus moderner Gesellschaften. Freiheit und Gleichheit ebenso wie Toleranz und Diversität sind Proto-Werte gut integrierter Verfassungsstaaten, die ihre Stabilität nicht auf ethnisch-kulturelle Homogenität gründen, sondern die Grundfeiler ihres liberalen Egalitarismus auf das politische Fundament eines gemeinsamen «Verfassungspatriotismus»9 freier und gleicher Bürger stützen. Eine gesellschaftliche Ordnung muss in dieser Hinsicht von einem «übergreifenden Konsens»10 aller Bürgerinnen und Bürger getragen werden, der sich auf die grundlegenden Institutionen der gesellschaftlichen Grundstruktur bezieht. Davon unberührt bleiben jedoch die zahlreichen in sie eingelassenen lokalen Praktiken, die von einem schmaleren Konsens getragen werden können, der sich allein aus den sie reproduzierenden Gruppen speist.

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    1 Vgl. Habermas, Jürgen: Erläuterungen zum Begriff des kommunikativen Handelns, in: ders.: Philosophische Texte. Studienausgabe in 5 Bänden, Band 1: Sprachtheoretische Grundlegung der Soziologie, Frankfurt a.M. 2009, S. 157-196, S. 157; Joas, Hans; Knöbl, Wolfgang: Sozialtheorie. Zwanzig einführende Vorlesungen, Frankfurt a.M. 2004, S. 37; Luhmann, Niklas: Wie ist soziale Ordnung möglich? In: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik – Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1981, S. 195-285, S. 195.

    2 Vgl. Platon: Der Staat, 520a.

    3 Vgl. Waldenfels, Bernhard: Sozialität und Alterität. Modi sozialer Erfahrung, Berlin 2015, Kap. I.2; Bedorf, Thomas; Herrmann, Steffen: Das Gewebe des Sozialen. Geschichte und Gegenwart des sozialen Bandes, in: dies. (Hrsg.): Das soziale Band. Geschichte und Gegenwart eines sozialtheoretischen Grundbegriffs, Frankfurt a.M. 2016, S. 11-50.

    4 Ich orientiere mich hierbei an der Darstellung von Habermas (Habermas, Jürgen: Theorie des kommunikativen Handelns, Band 2: Zur Kritik der funktionalen Vernunft, vierte, durchgesehene Auflage, Frankfurt a.M. 1987, S. 213 ff. sowie ders.: Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats, Frankfurt a.M. 1992, Kap. 2.3) jedoch ohne im gleichen Maße die Differenzierung der strukturellen Komponenten der Lebenswelt und ihre Reproduktionsprozesse durch verständigungsorientiertes Handeln nachzuvollziehen. Vgl. auch Honneth, Axel: Verwilderungen des sozialen Konflikts. Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts, in: ders.; Lindemann, Ophelia; Voswinkel, Stephan (Hrsg.): Strukturwandel der Anerkennung. Paradoxien sozialer Integration in der Gegenwart, Frankfurt a.M 2013, S. 17-40.

    5 Habermas, Jürgen: Theorie des Kommunikativen Denkens, Bd. 2, S. 42ff. Weiterführend vgl. auch Habermas, Jürgen: Individuierung durch Vergesellschaftung. Zu Georg Herbert Meads Theorie der Subjektivität, in: ders. Nachmetaphysisches Denken, Frankfurt a.M. 1988, S. 187-241.

    6 Brunkhorst, Hauke: Globale Solidarität. Inklusionsprobleme der modernen Gesellschaft, in: Wingert, Lutz; Günther, Klaus (Hrsg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift für Jürgen Habermas, Frankfurt a.M. 2001, S. 605-626. S. 605.

    7 Zum Konzept des Idealtypus vgl. Weber, Max: Die «Objektivität» sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis, in: ders.: Methodologische Schriften, Frankfurt a.M. 1968, S. 1-64, S. 42ff.

    8 Vgl. Jaeggi, Rahel: Kritik von Lebensformen, Berlin 2013, S. 240.

    9 Vgl. Müller, Jan-Werner: Verfassungspatriotismus, Berlin 2010.

    10 Vgl. Rawls, John: Politischer Liberalismus, Frankfurt a.M. 1998, Kap. 4.