Der Alltag der Philosophen

Lange stand Alltäglichkeit für genau dasjenige, was die Philosophie aufdecken und auflösen soll, um zum Kern der Dinge vorzudringen.

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    Alltag

    Mit dem Alltag tut es sich die Philosophie nach wie vor schwer. Das mag verwundern, angesichts des immer breiteren gesellschaftlichen Interesse an der Philosophie als Lebenskunst oder den Magazinen und Ratgebern, die einem Handreichungen versprechen, wie die Philosophie im Alltag zu leben sei. Mit dem Alltag selbst scheint die Philosophie aber nach wie vor zu hadern ; schliesslich ist eine Philosophie im Alltag noch lange keine Philosophie vom Alltag. Wer sich für die Einführung einer Alltagsphilosophie stark machen würde, käme schnell in den Verdacht, die eigene private Lebensform zur Norm erklären zu wollen, womit „Philosophie“ dann in etwa noch so viel meint wie wenn bestimmte Unternehmen ihre eigene Firmenphilosophie anpreisen. Doch worin bestünde eine Alltagsphilosophie, die im besten Sinne des Wortes eine Philosophie des Alltags wäre?

    Fakt ist: Unter den zahlreichen Bindestrich-Philosophien (Wirtschaftsphilosophie, Tierphilosophie, Pflanzenphilosophie, Nachhaltigkeitsphilosophie - bis hin zu dem, was Wilhelm Raatzsch einmal treffend als ‚Philosophie-Philosophie‘ bezeichnete), konnte sich jedenfalls ein eigenständiger Zweig der Alltagsphilosophie bislang nicht etablieren. Wenn ich einigen Kollegen glaube, so dürfte dies allerdings schon aufgrund des immer stärkeren Drucks zur Spezialisierung auf eindeutig identifizierbare Zuständigkeitsbereiche schon bald passieren. Nichtsdestotrotz bleiben einige Bedenken noch angebracht. Denn worin wäre ein Spezialist des Alltäglichen eigentlich philosophisch ausgewiesen? Schliesslich bedeutet die Rückkehr zum Alltagswissen (von Aristoteles‘ Rehabilitierung der doxa bis hin zur britischen Common-sense-philosophy) noch nicht zwangsläufig auch ein Wissen vom Alltag. Liegt es etwa an einer eingefleischten Skepsis gegenüber dem Offenliegenden, an einer unwillkürlichen Abkehr von dem, was gemeinhin fehlenden Tiefgang verspricht, dass sich die Philosophie nur selten, und wenn dann nur kaum, des Alltäglichen als solchem annahm? Ist es ihre Glätte, in der nicht nur Flachheit, sondern auch die Gefahr des Abgleitens droht, die Alltäglichkeit in der Philosophie zu keiner Kategorie werden ließ oder wenn, dann lediglich zu einer negativen?

    Denn lange stand Alltäglichkeit für genau dasjenige, was die Philosophie aufdecken und auflösen soll, um zum Kern der Dinge vorzudringen. Das Alltägliche, wir wissen es spätestens seit Heidegger, ist der Bereich der Durchschnittlichkeit, der Uneigentlichkeit, des Man. Doch nicht nur Philosophien der Entschlossenheit haben mit dem Alltag ihre Schwierigkeiten; alles deutet darauf hin, dass dessen prinzipielle Erschließbarkeit selbst fraglich bleibt.


    Ludwig Wittgenstein

    So auch Wittgenstein: „Die für uns wichtigsten Aspekte der Dinge sind durch ihre Einfachheit und Alltäglichkeit verborgen“ (§129 seiner Philosophischen Untersuchungen). Was ansichtig ist, ist darum noch nicht notwendig einsichtig, was offen da liegt noch nicht notwendig evident. Nun setzt allerdings die Befragbarkeit des Alltags voraus, dass es da etwas gäbe, was es zu befragen sich lohnte. Möglicherweise be- und hinterfragen wir deshalb den Alltag nicht, weil uns der Alltag selbst niemals in Frage stellt. Mit dem Romancier Georges Perec gesprochen gilt uns der Alltag als Ort der Fraglosigkeit schlechthin: was nicht mit Fragen aufwartet, kann kaum Antworten bereithalten.

    Nun muss man natürlich einräumen, dass einige Philosophen durchaus die Hoffnung hegten, gerade die Alltagssituation könnte uns über die allerältesten Fragen der Philosophie Aufschluss geben. Die sogenannte ordinary language philosophy, die an Ludwig Wittgensteins Sprachanalysen anknüpfte, verband mit der Rehabilitierung des Alltags das Versprechen, die Philosophie als Ganze auf neuen Boden zu stellen. Solcherlei Unterfangen, das die Bedeutung auf ihre alltägliche Verwendung zurückführt, hatte im 20. Jahrhundert eine weitreichende Wirkung. Allerdings drohte nun umgekehrt die Normalität selbst normativ zu werden, und damit genau jene Fragwürdigkeit wieder verloren zu gehen, die die Philosophie schließlich zu ihrer Existenzberechtigung verhilft: denn schließlich könnte man jederzeit fragen, warum dem Ordentlichen gegenüber dem Außerordentlichen überhaupt der Vorzug zu geben ist.

    Ein wenig Trost kommt von ganz anderer Seite: Alltägliches kann auch aus ganz und gar unmethodischen Gründen auffällig werden, immer dann etwa, wenn Routinen nolens volens durchbrochen werden mussten. Nicht selten schärft die Rückkehr zum Vertrauten nach einiger in der Ferne verbrachten Zeit den Blick für das, was man längst übersehen hatte, Eingespieltes stellt sich in seiner Kontingenz dar, ein Sinn dafür, dass sich einiges auch anders machen ließe, lässt die spezifische Prägung und den jeweiligen Stil des Alltäglichen hervortreten. Von solchen Beobachtungen ausgehend lassen sich bestimmte Alltagsstrategien entwickeln: kleine Finten im Raster des Gewohnten, geringe Abweichungen von eingespielten Wegen und Gesten, die auf schöpferische Weise in Erinnerung rufen, dass vieles auch anders sein könnte. Das erschließt alles noch keinen Forschungszweig und begründet schon gar keine neue Philosophie, aber ist ja vielleicht doch schon – für den Alltag – eine ganze Menge.