Perspektiven von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen

Dieser Beitrag ist ein Plädoyer dafür, bei dem Blick in die Zukunft von jetzigen Anwendungen zu lernen, und insbesondere die unterschiedlichen Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen mit zu berücksichtigen.

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    Philosophische und bioethische Diskurse über Enhancement werden häufig auf einer hohen Abstraktionsebene geführt. Die Beteiligten nehmen selbstverständlich an, die Anwendungen, über deren für und wider sie debattieren, würden Funktionen verbessern oder steigern. Dabei werden Anwendungsprobleme, Risiken oder Nebenwirkungen, die für das Individuum entstehen können, ausgeblendet. Dies verwundert, denn es gehört zum Alltagswissen, dass medizinische Eingriffe und Maßnahmen mit Risiken und Nebenwirkungen verbunden sind und nicht bei allen Menschen zum gewünschten Erfolg führen. Dieser Beitrag ist ein Plädoyer dafür, bei dem Blick in die Zukunft von jetzigen Anwendungen zu lernen, und insbesondere die unterschiedlichen Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen mit zu berücksichtigen.

    Ein konkretes Beispiel sind kosmetische Operationen, die nicht medizinisch indiziert sind, also zu Enhancement gezählt werden können. Krankenkassen in Deutschland übernehmen Risiken, die mit diesen Eingriffen verbunden sind, nur zum Teil.[1] Auf einer anderen Ebene liegen die Nebenwirkungen der Anwendung von Botox für Schauspieler und Schauspielerinnen. Sie erhoffen sich ein glatteres und jugendlicheres Gesicht. Sie „erkaufen“ sich diesen Vorteil aber mit einem starren Gesichtsausdruck. Ist bei Filmen ein intensives Mienenspiel gefragt, so gerät der Vorteil zum Nachteil.

    Ein anderes Beispiel: das Cochlea Implantat (CI). Das Versprechen: es macht Gehörlose zu Hörenden. So einfach ist es aber nicht. Die Trägerinnen und Träger sind je nach Kontext hörgeschädigt oder gehörlos.[2] Beispielsweise, wenn das Implantat ausfällt oder wenn sie es abnehmen wie bei der Kontrolle an Flughäfen, am Strand oder bei anderen Gelegenheiten (Bentele 2006). Einige sind stark psychisch beeinträchtigt (Gotthardt, zitiert von Bentele 2006 und Karacostas 2007) und alle ein Leben lang auf medizinische Betreuung angewiesen, in diesem Sinne also Patienten.

    Als das CI entwickelt und eingeführt wurde, haben Mediziner und Medizinerinnen sich wenig Gedanken darüber gemacht, ob die Anwendung im Interesse von gehörlosen Menschen sei (vgl. Blume 2012).[3] Für sie war es keine Frage, denn es war jenseits ihrer Vorstellung, dass ein „so leben wie andere auch“ keine Gleichheit der Funktionen voraussetzt. Das CI ist ein Beitrag zur Normalisierung im Sinne von „so sein wie andere“, weil CI-Träger so kommunizieren wie andere, d.h. in der Laut- und nicht in der Gebärdensprache. So werden sie aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft zu einem vollwertigen und gesellschaftlich anerkannten Mitglied der Gesellschaft. Die Annahme: Gehörlosigkeit ist eine Behinderung, die nach Möglichkeit beseitigt werden sollte (Bentele 2006).

    Aus der Perspektive von der Mehrzahl der gehörlosen Menschen, die sich als Angehörige einer Sprachminderheit sehen (der Gebärdensprache), ist das CI allerdings eher bedrohlich. Sie befürchten, dass mit jedem Implantat bei Kindern die Zahl der Menschen, die über die Gebärdensprache kommunizieren, sinkt.[4] Es gibt also sehr unterschiedliche Perspektiven. Und für Menschen mit Behinderung kann „Normalisierung“ eher bedeuten, „das zu tun, was andere Bürgerinnen und Bürger auch tun, und weniger ein normales Leben unabhängig von etwaigen körperlichen Einschränkungen zu führen“ (Erhardt, Grüber 2011, 125). Sie sind, um dieses gute Leben zu führen, auf technologische Entwicklungen und den medizinischen Fortschritt angewiesen. Während in der Philosophie und Bioethik ein Blick in die Zukunft geworfen wird, führen Menschen mit Behinderung im Hier und Jetzt Auseinandersetzungen mit Krankenkassen darüber, ob sie die Kosten für einen Elektrorollstuhl erstattet bekommen oder ob es ihnen zugemutet werden kann, geschoben zu werden. Gehörlose, insbesondere spätertaubten Menschen, die sich für ein CI entscheiden, müssen sich unter Umständen die Erstattung des Eingriffes vor Gericht erstreiten.

    Wie gezeigt wurde, gibt es nicht die Erfahrung, aus der Schlussfolgerungen für die Entwicklungen zukünftiger Technologien gezogen und ein Bewertungsrahmen abgeleitet werden kann. Aber es ist zu vermuten, dass der Beitrag der medizinischen Technologie dann ein Beitrag für ein gutes Leben darstellt, wenn nicht (nur) die eingeschränkte Funktion ausgeglichen wird, sondern wenn das Ziel der gesellschaftlichen Teilhabe gefordert würde, was offensichtlich keine medizinische Frage ist, wenngleich die Antwort in der Medizin bzw. Technologie liegen kann.

     

    Dieser Beitrag ist eine redaktionell überarbeitete Kurzfassung von Katrin Grüber, Bedingungen für ein gutes Leben mit Behinderung, S. 89-105 in: Verbesserte Körper – gutes Leben? Bioethik, Enhancement und die Disability Studies, Hrsg. Miriam Eilers, Katrin Grüber, Christoph Rehmann-Sutter, Reihe Praktische Philosophie kontrovers, Band 5, Peter Lang, Frankfurt/ Main 2012, S. 89-105.

    • [1] „Haben sich Versicherte eine Krankheit durch eine medizinisch nicht indizierte ästhetische Operation, eine Tätowierung oder ein Piercing zugezogen, hat die Krankenkasse die Versicherten in angemessener Höhe an den Kosten zu beteiligen und das Krankengeld für die Dauer dieser Behandlung ganz oder teilweise zu versagen oder zurückzufordern“ (Sozialgesetzbuch V, § 52 (2)).
    • [2] „It does not make you a hearing person” („happy implantee“, Woodcock 1992).
    • [3] Blume, Stuart (2012): Ethikdebatte und gesellschaftlicher Prozess: Lehren aus der Geschichte des Cochlea-Implantats. In: Verbesserte Körper – gutes Leben? Bioethik, Enhancement und die Disability Studies, Hrsg. v. Miriam Eilers, Katrin Grüber, Christoph Rehmann-Sutter, Reihe Praktische Philosophie kontrovers, Band 5, Peter Lang, Frankfurt/ Main 2012, S. 107-121.
    • [4] Dies allerdings nur, soweit in der Erziehung das Tragen von CI und die Kommunikation über die Gebärdensprache ausgeschlossen werden.

    Literatur

    • Bentele, Katrin (2006): Identität und Anerkennung. Das Cochlea-Implantat und der Umgang mit dem Fremden. In: Ehm, Simone/Schicktanz, Silke (Hrsg.), Körper als Maß? Biomedizinische Eingriffe und ihre Auswirkungen auf Körper- und Identitätsverständnisse, Stuttgart: S. Hirzel Verlag, S. 117–137.
    • Blume, Stuart (2012): Ethikdebatte und gesellschaftlicher Prozess: Lehren aus der Geschichte des Cochlea-Implantats. In: Verbesserte Körper – gutes Leben? Bioethik, Enhancement und die Disability Studies, Hrsg. v. Miriam Eilers, Katrin Grüber, Christoph Rehmann-Sutter, Reihe Praktische Philosophie kontrovers, Band 5, Peter Lang, Frankfurt/ Main 2012, S. 107-121.
    • Erhardt, Klaudia und Grüber, Katrin (2011): Teilhabe von Menschen mit geistiger Behinderung am Leben in der Kommune, Lambertus, Freiburg, S. 125.
    • Karacostas, Alexis (2007): Vortrag auf dem Festival Retour d'image 15.12.2007.
    • Grüber, Katrin (2012): Bedingungen für ein gutes Leben mit Behinderung, in: Verbesserte Körper – gutes Leben? Bioethik, Enhancement und die Disability Studies, Hrsg. Miriam Eilers, Katrin Grüber, Christoph Rehmann-Sutter, Reihe Praktische Philosophie kontrovers, Band 5, Peter Lang, Frankfurt/ Main 2012, S. 89-105.
    • SGB V § 52 Leistungsbeschränkung bei Selbstverschulden.
    • Woodcock, Kathryn (1992): Cochlear Implants vs. Deaf Culture. In: A Deaf American Monograph, S. 151-155 - („happy implantee“).