Apocalypse Now? Zum Motivkern philosophischer Zukunftserwartungen zwischen technischer Utopie und menschlicher Selbstvernichtung

Wenn wir im Zeitalter der Krisen- und Katastrophen das Wort ›Apokalypse‹ im Zusammenhang mit Technologie hören, denken wir nicht gerade an die Befreiung des Menschen von schwerer körperlicher Arbeit und an eine umfassende Bedürfnisbefriedigung, wie sie etwa noch im 19. Jh. die frühen Hoffnungen von Marx und Engels bestimmt haben.

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    Wenn wir im Zeitalter der Krisen- und Katastrophen das Wort ›Apokalypse‹ im Zusammenhang mit Technologie hören, denken wir nicht gerade an die Befreiung des Menschen von schwerer körperlicher Arbeit und an eine umfassende Bedürfnisbefriedigung, wie sie etwa noch im 19. Jh. die frühen Hoffnungen von Marx und Engels bestimmt haben. Wir denken an Globale Erwärmung und Super-GAU, an die Zunahme extremer Wetterphänomene und die Verödung ganzer Landstriche durch Öl, Brandrodung oder Radioaktivität.

    2016 jährt sich Tschernobyl zum dreißigsten, Fukushima zum fünften Mal, und die beklemmenden Bilder von verstrahlten Geisterstädten haben sich tief ins Mark unseres kollektiven Gedächtnisses gebrannt. Wem nach Grusel ist, der kann – Google Street View sei Dank – durch den radiotoxisch vergifteten Dornröschenschlaf der japanischen Stadt Namie im ehemaligen Sperrgebiet von Fukushima fahren. Zwischen der Realität dieser von Erdbeben, Tsunami und Reaktorkatastrophe heimgesuchten Kleinstadt und dem Set eines Roland-Emmerich-Films sind Unterschiede optisch kaum festzustellen, auch wenn wir natürlich wissen, dass noch unsere Urenkel ein ›Happy End‹ des Fallouts von Fukushima nicht mehr sehen werden. Der Weltuntergang ist zu unseren Lebzeiten allemal virtuell, ständig zum Greifen nah und doch stets auch irgendwie unendlich weit weg.


    Der Stadtkern der japanischen Stadt Namie 2013.
    Die technologische Gegenwart an der Schwelle zum Jahr Zwanzig-Sechzehn war Anno Sechzehn-Zwanzig noch apokalyptische Zukunft – allerdings in einem ganz anderen Sinne als wir das heute verstehen würden. Schon im Mittelalter hatten in der Auslegung der apokalyptischen Prophezeiungen der Bibel zwei Lesarten miteinander konkurriert: Die eine, uns geläufigere, malte das Ende aller Zeiten in den düstersten Farben. Orchestriert von Seuchen und Plagen sollten die Posaunen des Jüngsten Gerichts über die Menschheit wie Donnerschall hereinbrechen. Die andere, optimistischere Version verhieß, dass vor dem endgültigen Ende der Welt ein Jahrtausend des Glücks, ein ›Millennium‹ einträte, in dem es den Menschen an nichts mehr ermangeln würde. Der Messias würde wiederauferstehen und die Gerechten für diesen tausendjährigen Zeitraum mit ihm in seliger Eintracht auf Erden leben.

    Solche Vorstellungen waren noch lebendige Tradition, als der englische Lordkanzler und Philosoph Francis Bacon 1620 sein Neues Organon veröffentlichte. Nicht weniger als eine Wissenschaftsrevolution schwebte ihm darin vor: Durch die methodisch kontrollierte Nutzung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse sollte ein technischer Fortschritt der Menschheit zum Besseren ermöglicht werden. Das ›Millennium‹ – so Bacon in bewusster motivischer Anbindung an die endzeitlichen Hoffnungen einiger Zeitgenossen – sollte ein technisch produziertes Millennium sein!

    Um seinen Lesern die wissenschaftliche Revolution so schmackhaft wie möglich zu machen, griff der gewiefte Politiker Bacon also zu einem rhetorischen Trick. Anstatt einfach nur die trockenen Vorteile seines neuen Wissenschaftsprogramms aufzuzählen, identifizierte er das prognostizierte Ergebnis seiner geplanten Neuorientierung der Wissenschaften kurzerhand mit dem apokalyptischen Versprechen eines ›Goldenen Zeitalters‹ der Menschheitsgeschichte. Die Apokalypse Daniels verheiße schließlich nicht umsonst, dass die letzten Zeiten der Welt und die Vertiefung der Wissenschaften in dasselbe Zeitalter fallen würden: „Viele werden vorübergehen und von vielerlei Art wird die Wissenschaft sein.“ (vgl. Dan. 12,4)

    Wie genau Bacon dieses Millennium verstanden wissen wollte, zeigt ein anderes seiner Werke, die politische Utopie Neu Atlantis. Von futuristischen Forschungslaboren ist da die Rede, von High-Tech zur Kontrolle von Raumtemperaturen und sogar von so abgefahrenen Erfindungen wie dem U-Boot. Von lauter Dingen also, die damals noch Science Fiction waren, inzwischen aber längst Scientific Reality geworden sind. Die neuzeitliche Wissenschaftsidee, der Bacon mit der motivischen Anknüpfung an die biblische Apokalypse zum Durchbruch verhelfen wollte, gehört heute zu den Selbstverständlichkeiten der Welt, in der wir alltäglich leben. Ein Millennium des Glücks? Naja, vielleicht nicht ganz…

    Jedenfalls war Bacons religiös chiffrierter Fortschrittsoptimismus der Anfang von dem, was Jürgen Habermas Ende der 1960er-Jahre als Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ auf den Begriff bringen sollte. Mit dem Schwinden der religiösen Weltbilder zu Beginn der Neuzeit bestimmten Technik und Wissenschaft zunehmend die Orientierungslinien unserer Selbstverständigung über Zukunftserwartungen. Wenn fortan von Endzeitbefürchtungen und -hoffnungen die Rede sein sollte, dann hatte man sich dabei immer auch eine irgendwie technisch konfigurierte Zukunft vorzustellen – im Guten wie im Schlechten. Das religiöse Vokabular aber, das schon Bacon sich rhetorisch versiert zunutze gemacht hatte, vollzog diesen Orientierungswandel auf seltsame Art und Weise mit. Sowenig man noch an die ›Apokalypse‹ im Wortsinne der christlichen Überlieferung glauben mochte, die biblischen Extreme von ›Hölle­‹ und ›Paradies‹ blieben als wertende Metaphern in unserem Sprachgebrauch erhalten, auch und gerade dann, wenn es um Fragen von ›Fluch‹ oder ›Segen‹ der Technik ging. Das gilt bis in unsere Zeit hinein und zwar nicht nur für den alltäglichen Sprachgebrauch, sondern in gewissem Umfang auch für den sozialphilosophischen, sofern er nicht nur theoretisch feststellen, sondern auch praktisch zum Handeln aufrufen will.

    Der Technikphilosoph Günther Anders etwa beschwört den Begriff einer menschlichen „Apokalypse-Blindheit“, während Herbert Marcuse vor der Möglichkeit warnt, die „Welt zur Hölle“ zu machen. Karl Jaspers schließlich spricht vom apokalyptischen „Weltenende“, dessen Nahen der „sittlich-religiös wirksame Irrtum Johannes’ des Täufers, Jesus’ und der ersten Christen gewesen“ sei, sich mit der Atombombe jedoch zur „realen Möglichkeit“ der „Tötung allen Lebens auf der gesamten Erdoberfläche“ erwiesen habe. Unser Verständnis der ›apokalyptischen‹ Dimensionen von Technik hat sich seit Bacon zwar erheblich gewandelt und geradezu umgekehrt. Im Motivkern bleibt es aber dabei, dass wir biblische Metaphern verwenden, um uns selber klar zu machen, dass wir aktiv Handeln müssen, wenn wir die durchaus ambivalenten Folgen unserer technisierten Zivilisation bewusst in eine gewünschte Richtung lenken, die Katastrophe also verhindern oder die Emanzipation von einigen, vielleicht bloß vermeintlichen Sachzwängen erreichen wollen.

    Wie die Zukunft der Menschheit auch immer letztlich aussehen mag, in einer Hinsicht zumindest hat Francis Bacon Recht behalten: Es hängt bis zu einem gewissen Grade von unserem entschlossenen Handeln ab, ob wir die Welt zur ›Hölle‹ oder zum ›Paradies‹ machen. Die Sozialphilosophie kann uns zwar keine direkten Antworten darauf liefern, wie wir die Krisen und Katastrophen unseres technisierten Zeitalters technisch in den Griff kriegen. Aber sie kann eine Selbstverständigung initiieren, die uns – nicht zuletzt durch die bewusst appellierende Verwendung von wertenden Metaphern – darüber aufklärt, wie wir in dieser Welt, die, neben den Notwendigkeiten menschlicher Selbsterhaltung durch Technik, immer auch Möglichkeiten zur aktiven Gestaltung der Zukunft bereithält, gemeinsam selbstbestimmt leben möchten.

    Literatur & Links  

    Günther Anders: Die Antiquiertheit des Menschen. 2 Bde., 1956 (I)/1980(II), München. (Zitiert: Bd. I., S. 233)

    Francis Bacon:

    -  Neu Atlantis. Stuttgart 2003

    -   Neues Organon (lateinisch-deutsch). Herausgegeben und mit einer Einleitung von Wolfgang Krohn. 2 Bde., Hamburg 1999. (Zitiert: Bd. I., Aphorismus 93)

    Jean Delumeau: „Zwei verschiedene Lesarten der apokalyptischen Prophezeiungen“. In: Ders.: Angst im Abendland 2. Eine Geschichte kollektiver Ängste im Europa des 14. bis 18. Jahrhunderts. Reinbeck 1985, S. 314-326

    Jürgen Habermas: Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt a. M. 1969

    Karl Jaspers: Die Atombombe und die Zukunft des Menschen. Politisches Bewußtsein in unserer Zeit. München 1958. (Zitiert: S. 21f.) Herbert Marcuse: Das Ende der Utopie. Vorträge und Diskussionen in Berlin 1967. Frankfurt a. M. 1980. (Zitiert: S. 9)

    Streifzug durch eine Geisterstadt“. Süddeutsche Zeitung, 28. März 2013