Handlungen anderer verstehen – mit Hilfe von Gründen

Das interdisziplinäre DACH-Projekt untersucht die Fähigkeit, das Handeln anderer zu erklären und vorherzusehen.

·

    Menschen haben die Fähigkeit, das Handeln anderer zu erklären oder vorherzusagen, indem sie auf deren Gründe Bezug nehmen. Das interdisziplinäre DACH-Projekt „Die Struktur und Entwicklung des Verstehens von Handlungen und Gründen“ untersucht diese Fähigkeit, aber auch die Handlungsgründe selbst.

    Stellen Sie sich vor, in Charlottes Hotelzimmer brennt es. Charlotte betritt ihr Hotelzimmer und bemerkt den Rauch. Wir können nun problemlos ihr Verhalten vorhersagen – sie wird aus dem Zimmer rennen und den Feueralarmknopf drücken. Charlottes Gründe, dies zu tun: Es brennt und die Feuerwehr muss alarmiert werden. Im Rückblick können wir zudem erklären, wieso Charlotte aus dem Zimmer gerannt ist – der Grund war, dass es brannte und dass sie die Feuerwehr alarmieren musste. Wir haben eine „Gründe-Erklärung“ ihres Verhaltens.

    Die am Projekt beteiligten Wissenschaftler*innen entwickeln einerseits eine Theorie, wie genau sich die menschliche Fähigkeit der „Alltagspsychologie“ – d.h. eben die Fähigkeit, das Verhalten und die Gründe anderer zu verstehen – im Laufe der frühen Kindheit bis ins Erwachsenenalter entfaltet und wie sie kognitiv im Menschen verankert ist. Dieser Teil des Projekts liegt bei den beteiligten Entwicklungspsycholog*innen und Philosoph*innen aus Salzburg und Bochum. Andererseits erarbeitet das Projekt eine philosophische Konzeption von Handlungsgründen, mittels derer sich die Entwicklung und Struktur unserer Handlungserklärungen erfassen lässt. Dies geschieht im Zürcher Projektteil, an dem Hans-Johann Glock als Principal Investigator und ich als Postdoc beteiligt sind.

    Kehren wir zu Charlotte zurück. Die Tatsache, dass es brennt, ist ein guter oder normativer Grund, aus dem Zimmer zu rennen – diese Tatsache spricht dafür, dass sie aus dem Zimmer rennt. Charlotte handelt also aus einem guten Grund. Der Grund, der sie dazu bewegt, aus dem Zimmer zu rennen, ist dann offensichtlich ebenfalls Tatsache, dass es brennt. Es ist also die konkrete Situation ihrer Umwelt, die sie zum Handeln motiviert. Handlungsgründe im Sinne von motivierenden Gründen sind dementsprechend Tatsachen in der Welt.

    Objektive und subjektive Gründe

    Dieses an sich attraktive Bild von Gründen führt jedoch zu einem Problem. Nehmen wir an, es brennt in Wirklichkeit gar nicht in Charlottes Hotelzimmer. Sie unterliegt bloss einer Halluzination; es scheint ihr so, als wäre ihr Zimmer voller Rauch. Wenn Charlotte nun aus dem Zimmer rennt, dann tut sie das zwar nicht aus einem guten Grund, aber sie hat schon einen Grund loszurennen. Wir können ihr Verhalten genauso gut erklären wie im Fall, in dem es wirklich brennt, solange wir nur berücksichtigen, dass sie Rauch halluziniert und glaubt, dass es im Hotelzimmer brenne. Was ist aber im Halluzinationsfall Charlottes motivierender Grund? Was bewegt sie, aus dem Zimmer zu rennen? Die Tatsache, dass es brennt, kann es nicht sein, denn es brennt ja nicht. Dass Charlotte glaubt, dass es brennt, kommt auch nicht als Grund in Frage. Denn folgende Beschreibung ihres Abwägungsprozesses ist irreführend: „Ich glaube, dass es brennt. Wenn ich das glaube, dann renne ich lieber aus dem Zimmer.“ Es ist nicht die Tatsache, dass Charlotte dies glaubt, die sie motiviert wegzurennen, sondern das Geglaubte selbst. Charlottes motivierender Grund ist die vermeintliche Tatsache (der nicht bestehende Sachverhalt), dass es brennt. Zusammenfassend ist es eine These unseres Projekts, dass Handlungsgründe niemals in unseren Überzeugungen bestehen, sondern stets in den Tatsachen oder vermeintlichen Tatsachen, die wir glauben. Wir bezeichnen diese als objektive respektive subjektive Gründe.

    Handlungserklärungen im Irrtumsfall

    Aus der Annahme, dass es subjektive motivierende Gründe gibt, entsteht ein Problem für Gründe-Erklärungen. Wir sind in der Lage, die Handlungen anderer auch dann mittels ihrer Gründe zu erklären, wenn sie sich über die Welt irren wie Charlotte im Halluzinationsfall. Charlotte rennt aus dem Grund aus dem Zimmer, dass es brennt (wie sie irrtümlicherweise meint). Aber was für eine Art von Erklärung ist das? Eigentlich hätten wir hier gerne eine kausale Erklärung, in der Charlottes Grund – dass es brennt – die Ursache dafür ist, dass sie aus dem Zimmer rennt. Aber leider ist es ja nicht der Fall, dass es brennt; damit kann diese vermeintliche Tatsache Charlottes Verhalten auch nicht verursachen.

    Wir argumentieren, dass in solchen Fällen eine Erklärung der Handlung mit Bezug auf die Handlungskompetenz des handelnden Subjekts verfügbar ist. Die Grundidee ist, dass eine Akteurin wie Charlotte eigentlich die Kompetenz hat, aus guten Gründen zu handeln, z.B. die Kompetenz, aus dem Grund aus dem Zimmer zu rennen, dass es brennt. In manchen Fällen setzt eine Akteurin ihre Kompetenz jedoch fehlerhaft ein, so wie im Falle von Charlottes Halluzination. Dann kann die fehlgeschlagene Anwendung der Kompetenz dennoch ihr Verhalten erklären. Eine solche Erklärung nimmt zumindest indirekt Bezug auf die subjektiven Gründe der Akteurin.

    Ziele und Gründe

    Ausserdem untersuchen wir, wie sich Gründe-Erklärungen mit ‚teleologischen‘ Erklärungen verbinden lassen, die das Handlungsziel in den Mittelpunkt stellen. Charlotte rennt zum Feueralarmknopf. Wir können einerseits sagen, dass sie das aus dem Grund tut, dass es brennt; andererseits können wir sagen, dass sie dies tut, um die Feuerwehr zu alarmieren. Die zweite Erklärung verweist auf die Absicht oder das Ziel, mit dem die Handlung ausgeführt wird. Offensichtlich kann auch ein Ziel eine Erwägung sein, die jemanden zum Handeln bewegt. Was Charlotte vor Augen ist, während sie zum Alarmknopf eilt, ist ihr Ziel, die Feuerwehr zu rufen. Was zudem dafür spricht, zum Alarmknopf zu eilen, ist wohl doch ebenfalls Charlottes Ziel, die Feuerwehr zu alarmieren. Ist dieses Ziel also Charlottes motivierender Grund? Sind Ziele ein Art von Gründen? Oder müssen sie von diesen abgegrenzt werden? Diese Fragen sind Gegenstand unserer aktuellen Forschung.


    Weitere Informationen: https://www.ruhr-uni-bochum.de/philosophy/actionsandreasons/D-A-CH_Project/Home.html