Blogbeitrag von Lulgjin Spanca

Die Phänomenologie des Zweiten. Ein Essay.

Der Secondo ist der perfekte Schauspieler. Er kann Masken ausprobieren, auftragen und ablegen.

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    Heimat. Ein Gefühl? Oder doch eine Kategorisierung der transzendentalen Ästhetik – Raum und Zeit? Also ein Ort? Eine gelebte Kultur? Ein gesellschaftlich bedingtes Konstrukt? Oder unterliegt Heimat der digitalen Revolution – Heimat ist, wo sich mein Handy automatisch mit dem W-lan verbindet.

    Ich hasse das Gefühl, welches das Wort Heimat in mir auslöst: Ekel. So fremd erscheint es mir. Ich würge und könnt’ kotzen. Wieso?

    Ich beabsichtige die Perspektive eines Secondos näherzubringen. Ich will im vornherein anmerken, dass dieser Gedankenspaziergang Empathie bedingt. Ich werde versuchen zu erklären, was einem Kind von Migranten übrig bleibt. Denn die Fremdheit beginnt im eigenen Haus. Der Versuch, Grenzen zu überschreiten, ohne sie aufzuheben gehört zu den Abenteuern einer Fremdheit zwischen den Kulturen.

    Die Identität stellt die Bedingungsmöglichkeit jeder menschlichen Existenz dar. So entdeckt der Mensch, dass die anderen Bedingung seiner eigenen Existenz sind. Und im Bewusstsein dessen, dass der Mensch ohne seine Mitmenschen nichts wäre und zu keiner Wahrheit, Erhabenheit oder Schönheit kommen würde, braucht er die Anerkennung der anderen. So begreifen wir erzwungenermassen, dass der Mensch ein humanes Wesen ist.

    Die Identität bildet sich unterschiedlich aus. Die klassisch psychosoziale Entwicklung ist eine Gesellschaftliche – Durch dich bin ich und ICH bin durch das DU. Es bleibt ein intersubjektives und reziprokes Spiel. Es gibt aber auch andere Einflüsse der Identitätsbildung: Erziehung, Institutionen, Sozialisationsagenturen und Peer-Groups. Und andere: z.B. die Heimat. Aber verliert der Mensch durch das Verlassen seiner Heimatstadt ein Teil von sich?

    Der Secondo ist nur als Existenz (denn er ist keine Gelingensbedingung für jemanden, weil er nicht erhaltungsfähig ist) interessant, sondern auch als Subjekt und Erscheinung.

    Er ist ein Hybrid, ein Zwitter, ein Verstossener. Niemand will ihn haben, geschweige denn aufnehmen. Das Einzige, was man ihm schenkt, ist die Menschenwürde und die Formalitätsfassade, sonst nichts. Das sollte doch auch genügen - ihm sollte der erste Artikel der Menschenrechte genügen. Und dann spricht man von einem kulturellen Universalismus und Interkulturalität? Schwachsinn! Eine Zecke ist er! Er gehört zum Parasitentum der Gesellschaft. Verachtet, weil er entfremdet ist, keine Identität hat und „sich selber zum Objekt“ macht. Geliebt, weil er zwischen zwei Kulturen lebt. Er lebt zwei Leistungen menschlicher Zivilisationen. Dabei hat das seine Kastration herbeigeführt – ein Spagat zwischen zwei Welten. Was bedeutet das? Identitätsverlust. Was erhofft er sich? Eine Hyperbel zu sein: Rückzug in die Subjektivität und Erschaffung der Objektivität.

    Er bewegt sich in einer Sphäre, in der er hinein-geboren wurde. Er muss die Exklusivmen annehmen, weil er nichts inkludieren kann. Er spielt zwischen zwei Gründen. Das ist seine Freiheit: zwischen Migrationshintergrund und -vordergrund. Seine Freiheit ist metaphysisch: Es erklärt die Rahmen-bedingungen seines Seins, wobei ihm dieser „frame“ keine Struktur verleiht. Es bleibt bei einer Dekonstruktion – wie zwei Wasserdüsen in einem Aquarium, die dem Wasser Aufschwung in die Oberfläche geben, aber der Abtrieb das Resultat ist.

    In der Entwicklung – wenn man es überhaupt Entwicklung nennen darf – eines jeden Secondos gibt es keinen ontologischen Strukturmoment, welches seine Identität verfestigt. So verschwindet die Sphäre, in der er sich noch erhoffte sich bewegen zu können, die ich vorhin als Freiheit bezeichnet habe. Er fängt an einem Identitätsverlust zu erleiden. Langsam und schmerzhaft wird ihm die brutale Realität aufgezeigt. Desillusioniert schmilzt die Maske, die er bis jetzt auf hatte, und er sich dessen Aufsatz nicht bewusst war. Hier wird er später erkennen, dass dieser Verlust eine Chance für ihn ist. Es ist ein Potenzial etwas Neues zu kreieren, und kein Mangel von etwas.

    Die letzte moralische Konsequenz wäre, dass der Secondo sich in einem ständig kognitiven Spannungszustand befindet, denn er weiss nicht einmal, wer er nicht ist – via negations war schon immer einfacher. Einfacher? Ja, einfacher! Sagen zu können, wer man nicht ist, was man nicht will, ist einfacher als wer man ist und was man will.

    Der Secondo ist der perfekte Schauspieler. Er kann Masken ausprobieren, auftragen und ablegen. Ihm gehört ein Kosmos, das nur ihm zugänglich ist und niemanden sonst. Hört hier die Empathie auf? Ist das die Grenzerfahrung, von der jeder redet? Wären wir nicht alle besser dran, wenn wir nicht versuchen würden zu verstehen, sondern wenn wir die Tatsache akzeptieren würden, dass kein Mensch je einen anderen verstehen wird, keine Frau ihren Mann, kein Liebender seine Geliebte und auch kein Vater und keine Mutter ihr Kind? Vielleicht ist dies der Grund, warum die Menschen Gott erfunden haben, ein Wesen, das fähig wäre zu verstehen?

    Sein Leben ist ein Einakter; ein flaches konstantes Drama wie eine usbekische Steppe. Eine Anti-Struktur par excellence!

    Oder war das jetzt alles bloss eine Inszenierung? Vorgegaukelt, dass der Secondo gar keine Heimat hat und nur in Identifikationsfallen tappt?