Ein Beitrag von Harry Wolf

Leistung als Wegbereiterin des Populismus?

Krastev äussert die Vermutung, dass der Europäischen Union das gleiche Schicksal widerfahren könnte wie seinerzeit der Sowjetunion.

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    Philosophisch zu leben ist mitunter eine prekäre Angelegenheit. Vor allem dann, wenn man wie ich die Antworten der Philosophie höher gewichtet als die Fragen. Dann passiert es hin und wieder, dass ich Überzeugungen – vermeintlich feststehende Antworten – durch neue Antworten ersetzen muss. So geschah es mir, als ich das Buch des bulgarischen Philosophen Ivan Krastev mit dem Titel Europadämmerung i las.

     

    Krastev äussert die Vermutung, dass der Europäischen Union das gleiche Schicksal widerfahren könnte wie seinerzeit der Sowjetunion. Das Essay enthält bestechende Analysen. Ich greife daraus jenen Aspekt heraus, der mich persönlich getroffen hat. Es geht um die Meritokratie, d.h. um die Idee, dass eine Gesellschaft am besten auf Basis von Arbeit und Leistung organisiert ist. Eine meritokratische Gesellschaft unterscheidet sich von einer Adelsgesellschaft, welche die Gesellschaft nach Ständen (Adel, Klerus, Bauern) organisiert. Leistung soll sich gesellschaftlich auszahlen – das ist die Grundidee der Meritokratie. Wer mehr leistet, soll sich mehr leisten können. Wer freiwillig nichts leistet, soll auch nichts verdienen.

     

    Krastev erklärt, die Krise der Europäischen Union sei in ihrem Kern weder in einem Demokratiedefizit noch in seiner kosmopolitischen Ausrichtung zu suchen, sondern im Misstrauen gegenüber meritokratischen Eliten. Die Meritokratie produziert Gewinner, die sich ihre privilegierte Stellung ihrer eigenen Leistung zurechnen, und Verlierer, die ihr Versagen ihrer mangelnden Leistung zurechnen müssen. „Was die Meritokratie so unerträglich macht, vor allem in den Augen derer, die im sozialen und ökonomischen Konkurrenzkampf nicht die vorderen Reihen erreichen, ist weniger deren akademischer Erfolg als ihre Behauptung, sie seien deshalb erfolgreicher, weil sie härter arbeiteten als andere, besser ausgebildet seien und mehr Prüfungen bestanden hätten, an denen andere gescheitert seien.“ ii Die Leistungseliten sind stolz auf ihre Leistungen und gehen auch davon aus, dass die Entschädigungen, die sie dafür erhalten, gerechtfertigt sind. Bei genauerer Betrachtung stimmt dies freilich nicht: Sie haben einfach bei der Geburtslotterie Glück gehabt, wurden mit guten Genen ausgestattet oder in eine Familie hineingeboren, welche von Anfang an bessere Voraussetzungen geboten hat.iii Unser Schulsystem krankt seit je daran, dass es die gesellschaftliche Schichtung nur reproduziert. Jene, die aus sozial schwachen Schichten an die Spitze aufsteigen, sind Ausnahmen, welche die Regel bestätigen.

     

    Dieses Auseinanderdriften der Gesellschaft führt zu einem Verlust an politischer Gemeinschaft. Aufgrund ihrer herausragenden Fähigkeiten sind die Leistungseliten in der Lage, irgendwo auf der Welt tätig zu werden. Wie Fussballstars Tore für Mannschaften in beliebigen Ländern schiessen, führen Manager Firmen in aller Welt zum Erfolg. Manager können Firmen in Zürich oder in Berlin führen, Professoren können in Harvard oder an der ETH lehren. Die Leistungseliten sind untereinander und weltweit bestens vernetzt. Sie haben aber kaum eine Ahnung von der Lebenswirklichkeit der Bürgerinnen und Bürger an ihrem Wohnort. Und sie können – analog dem Kapital – wenn es in einem Land schwierig wird, weiterziehen. Sie kennen keine Loyalität zu ihrem Heimatland. Dies im Gegensatz zum landbesitzenden Adel. Hier nun setzen die Populisten an. Populisten verstehen die Gesellschaft nicht als Schule, in welcher Noten und Abschlüsse zählen, sondern als Familie, in der Solidarität und Loyalität zählen. Die Identifikation mit ethnischen, religiösen oder sozialen Gruppen ist wichtiger als die Orientierung an Kompetenz und Leistung. Der Aufstieg der Populisten ist die politische Reaktion der Globalisierungsverlierer auf die Globalisierung. Nomadisierende Leistungseliten und Flüchtlinge – beide Arten von Migranten sind den Populisten ein Dorn im Auge. „Beide sind nicht wie „wir“; beide bestehlen die aufrechte Mehrheit und rauben sie aus; beide zahlen nicht die Steuern, die sie eigentlich zahlen sollten; und beide sind gegenüber der einheimischen Tradition gleichgültig oder feindselig eingestellt.“ iv

     

    War ich bis dato fest davon überzeugt, dass Kompetenz und Leistung durchwegs positiv zu werten seien, so hat Krastev ernsthafte Zweifel gesät.

     

    Quellen

    1. Ivan Krastev: Europadämmerung. Ein Essay. Suhrkamp Verlag Berlin 2017
    2. Ivan Krastev, a.a.O., S. 105
    3. Vgl. Rolf Dobelli: Die Kunst des guten Lebens. Piper Verlag GmbH München 2017. Seite 51 ff.
    4. Ivan Krastev, a.a.O. Seite 87