Irrational, ungebildet und pathologisch?

Verschwörungstheorien als Herausforderungen politischer Bildung

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    Der Coronavirus ist eigentlich eine chinesische Erfindung bzw. Biowaffe, Angela Merkel will die europäische Bevölkerung austauschen, politische Eliten sind in Wahrheit Reptilien.... Verschwörungstheorien, so der Tenor aktueller Zeitdiagnosen in Wissenschaft und Öffentlichkeit, gewinnen insbesondere in Zeiten gesellschaftlicher Verunsicherung zunehmend an Attraktivität. Auch wenn die Annahme einer stetigen Zunahme der Verbreitung und Akzeptanz von Verschwörungstheorien aus historischer Perspektive nicht zuzutreffen scheint und auch je nach gesellschaftlichem Kontext und Thema präzisierungsbedürftig ist (Van Proojen/Douglas 2017; Butter 2018; Rees/Lamberty 2019), so steht doch außer Frage, dass verschwörungstheoretisches Denken mit ernst zu nehmenden Folgeproblemen einhergehen kann, die im Folgenden aus der Perspektive der Theorie und Praxis von Demokratieerziehung und politischer Bildung diskutiert werden sollen. Es geht um drei miteinander verbundene Fragen:

    • Wie lassen sich `Verschwörungstheorien´ angemessen theoretisch konzeptualisieren und einordnen?
    • Warum und in welcher Hinsicht stellen sie ein politisches und/oder pädagogisches Problem dar?
    • Wie soll man hierauf auf pädagogisch angemessene Weise reagieren?
     

    Ein zentrales Problem für einen angemessenen Umgang mit Verschwörungstheorien ist, dass manche von ihnen zutreffen. Was anfangs als Verschwörungstheorie galt – etwa die Watergate- oder die Snowdenenthüllungen – hat sich später als Wahrheit herausgestellt. Zugleich mangelt es nicht an historischen und kontemporären Beispielen, in denen die Zuschreibung `Verschwörungstheorie´ selbst mit politischer Motivation genutzt wurde, um von realen Verschwörungen abzulenken (z.B. in der Dreyfusaffäre). Aus einer rein deskriptiv-analytischen Perspektive lässt sich folgendes unter einer Verschwörungstheorie verstehen: „...a conspiracy theory can be generally counted as such if it is an effort to explain some event or practice by reference to the machinations of powerful people, who have also managed to conceal their role.“ (Sunstein/Vermeule 2013, S. 205). Solche Erklärungen gehen in der Regel (nicht immer) einher mit vagen Referenzen auf `malevolente Akteure´ und damit verbundenen manichäischen Weltbildern (etwa: `böse Eliten´ vs. das `gute Volk´) und mit soziologisch wenig plausiblen Annahmen über Formen der Intentionalität, Autorschaft und Planung, die komplexen historischen und gesellschaftlichen Prozessen unterlegt werden, wodurch die Rolle von Zufällen, unerwünschten Nebeneffekten und Kontingenzen ausgeblendet wird (Popper 2003).

     

    Zu den zentralen Streitpunkten bei der Bewertung von Verschwörungstheorien gehört die Frage, ob es sich hierbei überhaupt um Theorien oder nicht vielmehr um pseudowissenschaftliche Ideologien bzw. Mythen handelt. Auch wenn sich die Beantwortung dieser Frage aus wissenschaftstheoretischer Sicht als schwieriger erweist als man vermuten könnte (hierzu: Hepfer 2015), so steht doch außer Frage, dass man in vielen, wenn nicht den meisten Fällen, `Verschwörungstheorien´ nicht mit dem Attribut `wissenschaftliche Theorie´ nobilitieren kann. Relativ eindeutig beantworten lässt sich die Frage, ob Verschwörungstheoretiker_innen eine Pathologie zugeschrieben werden kann. Dies wird zwar sicherlich in einigen Fällen plausibel sein, aus sozialpsychologischer Perspektive geht man jedoch davon aus, dass wir es in der Regel mit einem Überzeugungssystem unter anderen zu tun haben, welches in normalen psychischen Fähigkeiten und Prozessen („pattern perception“ und „agency detection“; Van Proojen 2018) verankert ist. Für die politische Bildung sind epistemische Unterscheidungen wichtig, mit deren Hilfe man gesunde Skepsis und rational begründbare Kritik von destruktiv-irrationalen Wahrnehmungen, Bewertungen und Einstellungen abgrenzen kann, die mit verschwörungstheoretischem Denken einhergehen können, aber nicht müssen. Verschwörungstheoretiker_innen verstehen sich selbst häufig als Teil einer kritischen epistemischen Avantgarde, die Kritik dann in der Regel jedoch sehr selektiv und unkritisch betreibt: Man glaubt tradierten epistemischen Autoritäten nicht mehr, dafür aber umso bereitwilliger x-beliebigen Quellen aus dem Internet. Durch die asymmetrische, d.h. extrem selektive Berücksichtigung von angeblichen oder tatsächlichen Beweisen für und wider die Theorie (sog. confirmation bias) immunisieren sich Verschwörungstheoretiker_innen in vielen Fällen gegen Kritik, was auch die Diskussionen mit ihnen dann regelmäßig zu einer eher frustrierenden Angelegenheit macht.

     

    Warum und in welcher Hinsicht sind nun Verschwörungstheorien ein politisches und pädagogisches Problem? Diese Frage kann mit Rekurs auf empirische Forschung recht eindeutig beantwortet werden. So korreliert die Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu übernehmen, mit politischem Extremismus von links und rechts (Van Proojen/Krouwel/Pollet 2015), insbesondere auch mit Populismus (Elitenkritik etc.) und kann als `Radikalisierungsmultiplikator´ wirken (van Proojen 2018). Verschwörungstheorien werden in vielen Fällen genutzt zur Diskriminierung und Dämonisierung bestimmter Gruppen und zur Rechtfertigung von Intoleranz und Gewalt. Sie unterminieren rationale demokratische Debatten, fördern politische Polarisierung und politisches Misstrauen (Verschwörer und Verschwörungstheoretiker sind entsprechend immer die anderen) auch gegenüber den Institutionen liberaler Demokratien (vgl. Rees/Lamberty 2019).

     

    Wie steht es nun um die theoretische Frage nach dem spezifischen Zusammenhang von Bildung und der Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu übernehmen, und um die praktische Frage, wie damit im Unterricht auf pädagogisch angemessene und kluge Weise umzugehen ist?

     

    Die Bereitschaft, Verschwörungstheorien zu übernehmen scheint zwar auch mit Bildungsdefiziten zu korrelieren (u.a. Fähigkeit zu analytischem Denken) (Van Proojen 2017; Rees/Lamberty 2019), man sollte jedoch mit entsprechenden Generalisierungen vorsichtig sein. Dies gilt nicht nur deshalb, weil Bildung kein Allheilmittel für alle nur denkbaren gesellschaftspolitischen Probleme darstellt, sondern auch, weil eine Pädagogisierung politischer Konflikte häufig selbst politische Konflikte produziert. Dem politischen Gegner mangelnde Bildung vorzuwerfen, ist in der Regel kein gutes politisches Argument und wird nur selten auf Gegenliebe stoßen, selbst und vielleicht gerade dann, wenn es zutrifft. Es gibt zudem zahlreiche Beispiele für hochgradig gebildete Menschen (etwa Martin Heidegger, der an eine jüdische Weltverschwörung glaubte), die zugleich Verschwörungstheoretiker_innen waren oder sind. Politische, historische, ökonomische, mediale etc. Bildung, ob nun verstanden als Grundbildung und/oder Persönlichkeitsbildung, immunisiert daher sicherlich nicht per se gegen verschwörungstheoretisches Denken. Man kann aber dennoch festhalten – zumindest, wenn man konkrete Inhalte von Verschwörungstheorien berücksichtigt –, dass sich in der Bereitschaft, entsprechende Vorgaben zu glauben und zu verbreiten, in vielen Fällen nolens volens immer ein domänenspezifischer Mangel an Bildung ausdrückt. Wer an Pläne einer jüdischen Weltverschwörung oder einen Bevölkerungsaustausch glaubt, zeigt gerade damit, dass er oder sie die entsprechenden Interpretationen gesellschaftlicher Zusammenhänge nicht angemessen durchdacht und kritisch geprüft hat. Grundsätzlich kommt öffentlichen Bildungsinstitutionen die Aufgabe zu, zur Schaffung der kulturellen und politischen Voraussetzungen einer kritischen und nicht bloß rezeptiven demokratischen (digitalen) Öffentlichkeit beizutragen, in welcher Verschwörungstheorien kritisch diskutiert werden können und sollen (zumindest dann, wenn sie nicht völlig jenseits des rational Diskutablen angesiedelt sind bzw. nicht offensichtlich Ausdruck illiberaler und intoleranter Ideologien sind).

     

    Wie sollte nun mit Verschwörungstheorien im Unterricht aus pädagogischer Sicht umgegangen werden? Auch hierfür gibt es kein Patentrezept: In manchen Fällen, in denen entsprechende Denkmuster mit eindeutig intoleranten Äußerungen einhergehen, kann es geboten sein, klare Kante zu zeigen und auch zum Schutze Dritter pädagogisch zu intervenieren, d.h. die Grenzen der politischen Toleranz aufzuzeigen. In der Regel wird es jedoch zugleich pädagogisch geboten sein, trotz Grenzüberschreitungen im Dialog zu bleiben und zu versuchen rational aufzuklären, was jedoch auf Grund von entsprechenden Selbstimmunisierungstendenzen auf Grenzen stoßen und sogar kontraintentionale Effekte zeitigen kann, da Verschwörungstheoretiker_innen sich durch die Kritik oftmals in ihrer Auffassung bestärkt fühlen (sog. `Backfire Effekt´). Man kann darüber hinaus versuchen, über die Mechanismen, Eigenheiten und Motive verschwörungstheoretischen Denkens aufzuklären (etwa Ängste vor Kontrollverlust), Strickmuster dieser Theorien rekonstruieren (Wie baue ich eine Verschwörungstheorie?) und alternative Perspektiven und optimistischere Alternativerzählungen gegen oftmals düstere und angstbeladene verschwörungstheoretische Gesellschafts- und Weltbilder vorbringen. Auch wenn es hier – wie in pädagogischen Kontexten generell – in der Regel keine Erfolgsgarantien gibt (Brumlik 2018), steht außer Frage, dass es trotz aller berechtigten Skepsis gegenüber allzu optimistischen pädagogischen Erwartungen vor allem individuelle und kollektive Bildungs- und Lernprozesse sind, von denen man begründeter Weise hoffen kann, dass sie längerfristig zu einer Rationalisierung politischer Debatten beitragen.


    Literatur

    Brumlik, M. (2018). Demokratie und Bildung. Berlin: Neofelis.

    Butter, M. (2018). „Nichts ist, wie es scheint“. Über Verschwörungstheorien. Berlin: Suhrkamp.

    Hepfer, K. (2015). Verschwörungstheorien. Eine philosophische Kritik der Unvernunft. Bielefeld: transcript.

    Popper, K. (2003). The open society and its enemies. Vo. 2: Hegel and Marx. New York: Routledge.

    Sunstein, C./Vermeule, A. (2013). Conspiracy Theories. Causes and Cures. The Journal of Political Philosophy, 17, 2, S. 202–227

    Rees, J. /Lamberty, P. (2019). Mitreißende Wahrheiten: Verschwörungsmythen als Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. In: Zick, A./Küpper, B./Berghahn, W. (Hrsg.): Verlorene Mitte, Feinselige Zustände. Bonn: Dietz.

    Van Prooijen, J.-W. (2017). Why education predicts decreased belief in conspiracy theory. Applied Cognitive Psychology, 31, 50–58.
    Van Prooijen, J.-W., Krouwel, A., & Pollet, T. (2015). Political extremism predicts belief in conspiracy theories. Social Psychological and Personality Science, 6, 570–578.

    Van Prooijen, J.-W., & Douglas, K. M. (2017). Conspiracy theories as part of history: The role of societal crisis situations. Memory Studies, 10, 323-333.

    Van Prooijen, W. (2018). The Psychology of Conspiracy Theories. Oxon, New York: Routledge.