Auf den Schultern von Riesinnen

Vergessene Philosophinnen: unterrepräsentiert im Kanon philosophischer Werke.  

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    „Wie viele Philosophinnen kennst du?“, fragte vor einiger Zeit auf einem Plakat die Studienvertretung Philosophie der Universität Graz.1 Diese zum Nachdenken anregende Frage zeigt ganz gut, welche Leerstelle wir in der Geschichte der Philosophie in Bezug auf ihre Denkerinnen nach wie vor haben. Während auch viele philosophisch interessierte Laien die Namen Kant, Hegel oder Schopenhauer, Platon oder Aristoteles schon einmal gehört haben, sind Frauen als Philosophinnen im kollektiven Gedächtnis rar. Aus dem 21. oder 20. Jahrhundert fallen den meisten wohl noch Namen von Philosophinnen ein – Hannah Arendt vielleicht, Judith Butler oder Simone de Beauvoir. Aber aus früheren Jahrhunderten? Es scheint, als seien Denkerinnen eine Ausnahme.

    Der Kanon in Schule und Universität ist immer noch geprägt von weißen, männlichen Denkern der westlichen Hemisphäre. Dieser Kanon, als Behauptung einer bestimmten Normalität und eines Selbstbildes der Philosophie, ist seit einiger Zeit zum Gegenstand der Kritik geworden.2 Nicht nur, weil er bestimmte Stimmen und Sichtweisen nicht abbildet, sondern weil er selbst oftmals unhinterfragt weitergegeben wird und dadurch auch oftmals problematische Inhalte, wie etwa rassistische, antisemitische oder sexistische Annahmen kanonischer Denker. Stattdessen wäre eine bewusste Aneignung des Kanons vonnöten, indem beispielsweise problematisch gewordene Denker neu verortet und problematisiert werden oder indem der Kanon um bislang noch unbekannte Denker*innen ergänzt wird.3

    Der traditionelle Kanon der Philosophie ist vielen bedenklich geworden, einerseits hinsichtlich seiner Zusammensetzung und andererseits, weil das Kanonische immer auch eine gewisse Dominanz aufweist. Wie Anselm Haverkamp bemerkt, ist der Kanon vom „Schein einer über den Zeiten stehenden Ordnung“ gekennzeichnet.4 Und er weist darauf hin, dass ein Platz im Kanon nicht zwingend mit Erfolg (zu Lebzeiten) gleichzusetzen ist. Ebenso wenig besteht Zweifel darüber, dass das Kanonische nicht bloß das Erfolgreiche ist, sondern nur einen Ausschnitt abbildet. Eine Befragung des derzeitigen philosophischen Kanons würde somit nicht nur den Blick auf bisher wenig beachtete wertvolle Theorien und Positionen weiten, sie könnte darüber hinaus auch nutzbringend für aktuelle Forschungen sein, indem vergessene Argumente und Sichtweisen wieder zugängig werden.

    Nicht nur sind Philosophinnen und ihre Werke bislang unterrepräsentiert im Kanon philosophischer Werke und einstmals wichtige Denkerinnen aus früheren Jahrhunderten in Vergessenheit geraten. – Auch innerhalb der kanonischen Theorien selbst kommen Frauen häufig kaum vor oder werden als Männern nicht gleichwertige Subjekte gesehen.

    Wie Seyla Benhabib und Linda Nicholson dazu feststellten, lässt sich allgemein über die Subjekte der philosophischen Theorien aus der frühen Neuzeit sagen: „Frauen als Subjekte […], als vollberechtigte Menschen fehlen in dieser Tradition. Sie tauchen nur als Erfüller bestimmter grundlegender Funktionen auf.“5 Dieser Umstand lässt sich gut am Beispiel von Kants Rechtsphilosophie verdeutlichen. Während Kant einerseits als Hauptvertreter der deutschen Aufklärung gilt und von der universell geltenden Möglichkeit einer menschlichen Autonomie aufgrund der Vernunftfähigkeit des Menschen ausgeht, kommen seiner Ansicht nach politische Freiheiten des Staatsbürgers und Rechte, wie das etwa das Stimmrecht, nur Männern zu. Kant schreibt dazu in der „Metaphysik der Sitten“ von 1797:

     

    „Nur die Fähigkeit der Stimmgebung macht die Qualification zum Staatsbürger aus; jene aber setzt die Selbstständigkeit dessen im Volk voraus […]. Die letztere Qualität macht aber die Unterscheidung des activen vom passiven Staatsbürger nothwendig, obgleich der Begriff des letzteren mit der Erklärung des Begriffs von einem Staatsbürger überhaupt im Widerspruch zu stehen scheint. - Folgende Beispiele können dazu dienen, diese Schwierigkeit zu heben: Der Geselle bei einem Kaufmann oder bei einem Handwerker; der Dienstbote (nicht der im Dienste des Staats steht); der Unmündige ( naturaliter vel civiliter ); alles Frauenzimmer und überhaupt jedermann, der nicht nach eigenem Betrieb, sondern nach der Verfügung Anderer (außer der des Staats) genöthigt ist, seine Existenz (Nahrung und Schutz) zu erhalten, entbehrt der bürgerlichen Persönlichkeit, und seine Existenz ist gleichsam nur Inhärenz.“6

     

    Wir sehen hier eine Verbindung zwischen dem Stimmrecht, dem Status des aktiven Staatsbürgers und der Fähigkeit zur Selbstbestimmung, d.h. Eigenständigkeit und Unabhängigkeit vom Willen anderer. Die von Kant angeführten Beispiele legen nahe, dass seine Auffassung des Staatsbürgers zwei Pointen hat: sein Begriff des Staatsbürgers ist erstens nicht primär an die Geschlechtszugehörigkeit gebunden, wie etwa bei Rousseau. Zweitens ist es kein statisches Konzept, das etwa allein auf Klassenzugehörigkeit beruht oder auf Annahmen anatomischer Unterlegenheit. Die soziale Abhängigkeit von der Kant spricht, ist veränderbar, denn sie ist nicht angeboren oder Gott gegeben. Dies wird auch deutlich an den Beispielen, die er anführt, um die „Abhängigkeit vom Willen anderer“ zu erklären: „Der Hauslehrer [ist abhängig, A.S.] in Vergleichung mit dem Schulmann“.7 Die Berufsart kann also dieselbe sein, das Anstellungsverhältnis entscheidet über den Grad der Abhängigkeit von anderen und damit über den Status als aktiver oder passiver Staatsbürger.

    Es lässt sich daraus ableiten, dass die Subjekte innerhalb von Kants politischer Theorie u.a. anhand ihres Status im öffentlichen, ökonomischen und sozialen Gefüge definiert werden. Unklar scheint aber zu bleiben, ob für Kant diese Aussagen nur für männliche Mitglieder des Staates gelten. Interessant sind deshalb in diesem Zusammenhang auch Kants Bemerkungen zum Verlust der Unabhängigkeit: „Gelehrte lassen sich in Ansehung der häuslichen Anordnungen gemeiniglich gern von ihren Frauen in der Unmündigkeit erhalten. Ein unter seinen Büchern begrabener Gelehrter antwortete auf das Geschrei eines Bedienten, es sei in einem der Zimmer Feuer: ‚Ihr wißt, daß dergleichen Dinge für meine Frau gehören.‘ – Endlich kann auch von Staats wegen die schon erworbene Mündigkeit eines Verschwenders einen Rückfall in die bürgerliche Unmündigkeit nach sich ziehen, wenn er nach dem gesetzlichen Eintritt in die Majorennität eine Schwäche des Verstandes in Absicht auf die Verwaltung seines Vermögens zeigt, die ihn als Kind oder Blödsinnigen darstellt […]“8. Die hier von Kant genannten Beispiele über den Verlust der Unabhängigkeit und somit des Status als aktive Staatsbürger betreffen allesamt Männer, Frauen bleiben fast gänzlich unerwähnt. Während also die Möglichkeit, die bürgerliche Selbstständigkeit zu erlangen, theoretisch allen Staatsbewohner*innen zukommt, sind zumindest in den Beispielen nur Männer vom Verlust der Selbstständigkeit betroffen. Hier scheint es eine Spannung zu geben zwischen Kants theoretischem Anspruch auf Allgemeingültigkeit und den Ausformulierungen über Bedingungen der Staatsbürgerschaft.

    Wie Susan Mendus hierzu betont, greifen Erklärungen oder Entschuldigungen für Kants Äußerungen wie etwa, dass er eben ein „Kind seiner Zeit sei“ und lediglich damals vorherrschende Ansichten wiedergebe, zu kurz. Sie begründet dies, indem sie Kritik von Kants Zeitgenossen an Teilen seines Werks anführt, zum Beispiel George Forsters Entgegnung auf Kants Annahmen über „Menschenrassen“.9

    Eine Strategie des Umgangs mit dem derzeitigen philosophischen Kanon könnte also eine theorieimmanente Kritik sein, welche die Geschlechterungleichheiten, (unbewussten) Vorurteile, Inkonsistenzen und Ambivalenzen herausarbeitet und kenntlich macht, wie ich es am Beispiel Kants skizzierte. So wichtig und richtig diese Art der Auseinandersetzung mit dem Status von Frauen in den klassischen philosophischen Theorien ist, diese Arbeit darf kein Ersatz für weitreichendere Arbeiten am philosophischen Kanon sein, denn so würde nur weiter die patrilineale Tradition dieser Disziplin fortgeschrieben.10 Wichtig wäre es, ihr eine neue Richtung zu geben, sie zu ergänzen und die Praktiken der Weitergabe zu modifizieren.

    Erst seit kurzer Zeit wird innerhalb der Philosophie verstärkt das Erbe im Sinne einer matrilinealen Tradition aufgearbeitet. Mittlerweile gibt es eine Reihe von Werken, die diese Philosophinnen und ihre Arbeit vorstellen und ihre Netzwerke nachzeichnen.11 Das gemeinsame Anliegen, die Bekanntheit dieser Philosophinnen zu vergrößern und den Kanon um sie zu ergänzen, wird auch in mehreren digitalen Netzwerken sichtbar, zum Beispiel in dem Projekt „New Narratives“ oder dem an der Universität Paderborn angesiedelten Forschungsprojekt „History of Women Philosophers and Scientists“.

    Erfreulicherweise wird von vielen Forscher*innen auch immer wieder betont, dass diese Philosophinnen aus früherer Zeit keine „Einzelfälle“ oder Ausnahmen waren. Die sich in solchen häufig gemachten Annahmen zeigende Verblüffung über Frauen in der Philosophie ist auch ein Hinweis auf den hohen Grad der Vergessenheit, denn viele dieser heute unbekannten Frauen waren zu ihrer Zeit berühmt, vieldiskutiert und vielzitiert und wurden teilweise von den größten Verlagshäusern publiziert, zum Beispiel die Italienerin Moderata Fonte, die in einem 1600 veröffentlichten Buch über die Eigentumsrechte von Frauen schrieb. Eine breitere Auseinandersetzung mit diesem Erbteil der Philosophie hätte auch den Nebeneffekt, dass Frauen als Philosophinnen nicht mehr als Sonderfall wahrgenommen werden würden.

    Es bleibt die Frage, weshalb diese Frauen und die Netzwerke der Denkerinnen überhaupt in Vergessenheit gerieten und warum aus bestimmten Epochen, wie bspw. der Neuzeit, fast nur ihre männlichen Kollegen in Erinnerung geblieben sind und tradiert werden. Hier gilt es danach zu fragen, durch welche Praktiken diese Auswahl geschah und wann diese verengte Weitergabe stattfand. Diesen Fragen möchte ich in meinem derzeitigen Forschungsprojekt zum kulturellen Erbe nachgehen.


    Literatur

    Becker, Anna 2017: „Gender in the History of Early Modern Political Thought”, in: The Historical Journal 60(4), S. 843-863.

    Benhabib, Seyla; Nicholson, Linda 1987: „Politische Philosophie und die Frauenfrage“, in: H. Münkler; I. Fetscher (Hg.): Pipers Handbuch der politischen Ideen, Bd. 5, München/ Zürich, S. 513-562.

    Broad, Jacqueline; Green, Karen 2009: A History of Women’s Political Thought in Europe 1400-1700, Cambridge University Press.

    Fonte, Moderata 2001 [1600]: Das Verdienst der Frauen: warum Frauen würdiger und vollkommener sind als Männer, München: Beck.

    Haverkamp, Anselm 2008: Diesseits der Oder. Frankfurter Vorlesungen. Berlin: Kadmos.

    Jose, Jim 2004: “No More like Pallas Athena: Displacing Patrilineal Accounts of Modern Feminist Political Theory”, in: Hypatia 19(4), S.1-22.

    Kant, Immanuel 1797: Die Metaphysik der Sitten, Hrsg: Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin (=Akademie-Ausgabe, Bd. VI, S. 203-493).

    Kant, Immanuel 1798: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Hrsg: Preussische Akademie der Wissenschaften, Berlin (=Akademie Ausgabe, Bd. VII, S. 117-333).

    Mendus, Susan 1987: „Kant: ‚An Honest but Narrow-Minded Bourgeois’?”, in: E. Kennedy; S. Mendus (Hg.): Women in Western Political Philosophy. Kant to Nietzsche, St. Martin’s, New York, S. 21-43.

    Mikkola, Mari 2016: „Die Andere der Philosophie: Warum mangelt es in der deutschen Philosophie noch an Gender-Gerechtigkeit?”, in Quante, M. (Hg.): Geschichte und Geltung. Tagungsband des 23. Deutschen Kongress' für Philosophie, Hamburg: Meiner, S. 403-408.

    Shapiro, Lisa 2016: „Revisiting the Early Modern Philosophical”, in: Journal of the American Philosophical Association, S. 365-383.


    2 Siehe z.B. Mikkola 2016; Shapiro 2016.

    3 Siehe hierzu das an der Universität Jena verortete Projekt „Wie umgehen mit Rassismus, Sexismus und Antisemitismus in klassischen Werken der Philosophie?“ http://wieumgehenmitrsa.uni-jena.de/

    4 Haverkamp 2008, S. 73.

    5 Benhabib; Nicholson 1987, S. 516. Siehe grundlegend dazu auch Becker 2017.

    6 6: 314.

    7 6:315.

    8 7:210.

    9 Vgl. Mendus 1987.

    10 vgl. Jose 2004.

    11 Vgl. z.B. Broad& Green 2009.