Der schwarze Highheel

von Identität zu Assemblage

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    In seinem 2010er Werk NOT YET HEARD spekuliert Designer Gunnar Green eigentlich zusammen mit Prof. Mark Plumbey (University of Surrey, UK), über intelligente Technologien, die uns beim Alltag zuhören, sogenannte Machine-Listening-Technologien. In einem ca. sechs minütigen Video zeigen Plumbey/Green extrahiert-betonte Fragmente akustischer Landschaften, die wir sonst oft überhören, hier ihnen jedoch bewusst lauschen.

    Teil akustischer Alltagslandschaften sind Kleider, zB das Rauschen von Röcken, das Wallen von Wintermänteln, das Klicken, wenn sich das Schloss der Handtasche schließt, oder eben das Klacken von Schuhen auf Untergrund. Letzteres wählten Green/Plumbey für die Sekunden 0:40-0:52min des Videos (hier extrahiert gezeigt). Jene Sequenz zeigt einen schwarzen Highheel. Ein klassisches Modell, weder auffallend hoch noch auffallend niedrig, schätzungsweise in einer Standardgröße. Er ist aus glänzendem Leder (oder Lack?); erscheint hochwertig und ist definitiv ungetragen, unbenutzt und unbeschmutzt, auch zu erkennen anhand der Makellosigkeit seines Absatzes sowie seiner weißen Sohle. Kein fleischiger Fuß steckt in dem Heel. Anstatt dessen wird er von einer Schraube durchbohrt, die ihn mit einem Maschinen-Arm verknüpft und ihn so beweglich macht. Die Schraube ist glänzend und makellos wie der Schuh. Passend zu seiner Optik erscheint sie nahezu edel. 

    Die Sohle des Schuhs steht auf einer weißen runden Platte; der Absatz klackt im Marschschritt auf im Sekundentakt wechselnde schwarze Platten, die sich auf einer Drehscheibe zu befinden scheinen. Das heißt, das Weiß der Sohle wiederholt sich in ihrem ebenso weißen Untergrund. Jener korrespondiert in Form zu, widerspricht jedoch in Farbe den wechselnden schwarzen Platten, die allerdings das Schwarz des Absatzes repetieren. Zur Zeit des Videos sind Absatz und schwarze Platten noch genauso makellos unbenutzt wie die weiße Sohle-Platte Kombination, doch wird dieser Teil der Installation im Laufe der Zeit reibend abgetragen werden. Insgesamt klackt der Absatz in den 12 Sekunden der Videosequenz elf Mal auf jeweils andere und bald sich wiederholende Platten. Vorab erscheint der Hinweis “Footsteps, Hard Floor, High Heel, right surface, varying“. Oben im Bild läuft während der Sequenz eine komplexe Zahlenreihe mit, die das Klacken des Heels zählt. 

    Viel grundlegender als das Akustische sind Fragen wie: (1) Ist der Schuh ein Schuh? Karl Marx schrieb den berühmten Satz: “ein Kleid wird erst wirklich Kleid durch den Akt des Tragens“. Augenscheinlich wird der Highheel nicht von einem Menschen getragen, sondern von einer Maschine durchbohrt. Ist der Heel nun kein Schuh (als Untersparte des Kleides) mehr? (2) Geht der Schuh, oder wird er von der Maschine zum Gehen gebracht? D.h. zieht der Schuh den Maschinen-Arm hinunter, oder drückt die Maschine Schuh und Platten aufeinander? Hierin impliziert ist die Frage: Bewegt normalerweise der Mensch den Schuh um zu gehen, oder lenkt der Schuh das Gehen des Menschen? Worum es hierbei eigentlich geht sind Grenzen zwischen Schuh und Maschine. Wo hört der Schuh auf, wo fängt die Maschine an, und vice versa? Grenzen bedeuten Identitäten. Was ist der Schuh/die Maschine? Doch die Logik der Identität scheint nicht fähig, das Werk Green/Plumbey's zu begreifen.

    Erachtet man den Schuh als Platzhalter des Menschen, so kann Green/Plumbey’s Werk als „Cyborg“ gelesen werden. Cyborg meint generell ein Mensch-Maschinen-Konglomerat, sei es aus Gründen der (medizinischen) Aufrechterhaltung oder Lebensverbesserung des Menschen, oder als faustisch-futuristischen Pakt mit dem Teufel, in dem der Mensch durch die Maschine gefangen gehalten wird. Der Cyborg-Begriff stammt aus den 1960ern und wurde vom Wiener Wissenschaftler Manfred Clynes (*1940) erdacht, der im Übrigen bereits das Brillentragen als uns zu Cyborgs mutierend erachtet. In der Philosophie findet der Cyborg als Alternative zu klassisch-verkopften Menschheitskonzeptionen Anklang u.a. bei Andy Clark, der die Besonderheit unserer menschlichen Spezies darin begründet sieht, dass wir „geborene Cyborgs“ sind, d.h. es unserer Natur entspricht, uns mit Dingen (darunter: Maschinen) zu verzahnen; und auch die feministische Philosophin Donna Haraway sieht den Cyborg als treffende Beschreibung von Mensch-Maschinen Verhältnissen, in denen es schon längst nicht mehr eindeutig ist, wer wen zum Handeln bringt und im Handeln leitet. Hier könnte es sich also um einen Menschenschuh-Maschinen-Cyborg handeln, womit eine neue Lesart von Schuh/Maschine gegeben scheint. 

    Allerdings impliziert der Cyborg, dass es sich hierbei um ein Zusammentreffen von vorher unabhängig existiert habenden Identitäten handelt, die zwar zu Teilen eines Cyborgs wurden und jenen zum Handeln befähigen, allerdings noch als Einzel-Identitäten zu erkennen sind. Der Schuh bleibt ein Schuh, auch wenn er nun mit einer Maschine verschraubt ist. Es ist eine Schraube, die Schuh und Maschine verbindet, aber auch als Grenzposten zwischen beiden agiert. Und es ist eine Maschine (aus Arm, Drehscheibe, Plättchen), in die der Schuh eingeschraubt ist. Würde man die Schraube lösen, so wäre der Schuh wieder als Kleid am Menschenfuß tragbar; und auch ein anderes Ding könnte in die Maschine geschraubt werden. Kurzum: Green/Plumbey’s Installation, als Cyborg gelesen, ist eine Interaktion (siehe meinen Artikel: Inter/Intra-Aktion), und besagt als solche: Ja, die Dinge befinden sich gerade in einem (merkwürdigen, neuartigen, evtl. einzigartigen) Zusammenschluss, doch dabei bleiben sie als die Dinge, die sie sind, identizifierbar. Der Cyborg bleibt also der Logik der Identität verhaftet, die bereits als nicht zielführend erfasst wurde. Eine Alternative muss her. 

    Vicky Kirby und Dianne Currier schlagen das Konzept der „Assemblage von Gilles Deleuze und Félix Guattari als Alternative zum Cyborg vor. Assemblage sagt: Zuerst ist immer schon das Geflecht, in das Menschen und Dinge (Maschinen) eingeschraubt sind. Im Geflecht „werden“ Menschen kontinuierlich durch ihre Verknüpfung mit Dingen, und auch Dinge werden kontinuierlich durch ihr Verflochtensein mit Menschen. Keiner der Akteure kann eine Assemblage verlassen, ohne etwas anderes zu werden. In einer Assemblage besteht zwischen Menschen und Dingen keine Hierarchie, denn beide sind allein temporäre Artikulationen. Dadurch sind Ambivalenzen keine Lücken im Wissen, sondern greifbare Spuren des Werdens. Assemblage negiert also Identitäten, sagt stattdessen: „Intra-Aktion“. 

    Green/Plumbey's Schuh-Maschinen-Assemblage artikuliert den Highheel auf diverseste Weise. Zum einen „wird“ er als Teil der Maschine von jener in seinen Schritten geleitet. So sagt die Installation etwas über Normativitäten von Schuhen und Schritten aus. Der richtige Schuh ist makellos, standardisiert, unbenutzt, „right surface“. Der richtige Schritt ist mechanisch gleich auf immer gleichem Boden, „Hard Floor“. Bloß nicht auffallen, bloß im Gleichschritt treten, bloß niemandem auf den beschuhten Fuß/den gefußten Schuh treten, bloß nicht aus dem Takt fallen. Bilder von urban dicht gedrängten Menschenmassen und vollen U-Bahnen flackern auf. Zum anderen wird der Schuh aber auch Kleid, ein menschliches Teil, und die Maschine wird einer Art Ersatz-Mensch, der jedoch den Schuh nicht ausfüllt, sondern ihn durchbohrt, ihn penetriert — so wie auch der Mensch in klassischen Kleidenskonzeptionen die Macht hat, den identitätslosen Schuh zu verwenden, sich mit ihm zu kleiden (siehe meinen Artikel: Sich-Kleiden). Nun scheint die hier vorliegende Installation auf die anthropozentrisch unterdrückte Rolle des Kleides aufmerksam machen zu wollen.

    Als Assemblage werden stets beide Seiten des hinterfragten Dualismus zutreffend: Der Schuh zieht den Maschinenarm auf die Platten und wird von ihm hinunter gedrückt, wodurch er sowohl zum Kleid als auch zur Maschinenkomponente wird. Die Maschine agiert ebenso als Mensch für den Schuh wie als Schuh für den Menschen. Und die Schraube ist edle Zierde des Highheels wie auch notwendiges Bindeglied von Schuh und Maschine. Schuh, Maschine, Schraube sind also keine Einzelteile, sondern stets nur in ihrer Relation, d.h. als Assemblage, als ambivalent greifbar. Und diese Ambivalenz lässt uns das Potenzial ihres Werdens erahnen. Denn was ein schwarzer Highheel so alles werden kann ist allein abhängig von den Geflechten, in die er verwoben wird, und somit unendlich offen. Ebenso verhält es sich mit akustischen Assemblagen, in die Menschen und Kleider immer schon hinein geflochten sind, und deren Analyse nun zu unternehmen wäre.