Bild aus dem Spiegel Beitrag; "Das Virus ist ein Warnschuss der Natur" mit Susanne Beyer.

Aufklärung und Moral

Französische Revolution, Radikalismus und Menschenrechte

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    In Das Virus ist ein Warnschuss der Natur nimmt der Philosoph Markus Gabriel in einem Interview mit der SPIEGEL-Redakteurin Susanne Beyer Stellung zu den Themen Aufklärung, Demokratie und Moral angesichts aktueller Krisen wie Klimawandel, Corona-Pandemie und Demokratiedefizite (vgl. DER SPIEGEL, 01.08.2020). Dazu einige, wie ich hoffe, vertiefende Anmerkungen:

     

    Erstens: Markus Gabriel verbindet den Begriff von Aufklärung vor allem mit dem Ereignis der Französischen Revolution. „Startschuss der Moderne war natürlich die Französische Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – mit diesem Slogan kam der Augenblick, in dem die Aufklärung wirksam wurde.

     

    Die Revolution von 1789 war ein politisches Fanal, das die Grundfesten der Ständeordnung in Europa nachhaltig ins Wanken brachte. Politisch inspiriert waren die Akteure der Französischen Revolution durch das Beispiel des erfolgreichen Unabhängigkeitskampfes der dreizehn nordamerikanischen Kolonien gegen das Mutterland Großbritannien. Dieser Aufstand führte 1776 zur nordamerikanischen Unabhängigkeitserklärung und zur ersten Verfassung, in der unveräußerliche Menschenrechte proklamiert wurden: „All men by nature equally free and independent, and have certain inherent rights.

     

    Die Menschenrechte in der amerikanischen Verfassung wurden sowohl theologisch als auch naturrechtlich begründet. Der Philosoph John Locke, auf dessen Schriften sich die Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitsbewegung unter anderem beriefen, leitete die Gleichheit der Menschen aus der biblischen Geschichte der Schöpfung und der theologischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit ab. So verwies die amerikanische Unabhängigkeitserklärung ausdrücklich darauf, dass das Volk der Vereinigten Staaten nun den Rang einzunehmen gedächte, zu dem die Gesetze der Natur und des Gottes der Natur es berechtigten. Die Moralität der US-amerikanischen Verfassung fußt also wesentlich auf religiösen Grundüberzeugungen, die ins Politische transformiert wurden.

     

    Die am 26. August 1789 von der französischen Nationalversammlung verkündete Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte beruhte vor allem auf einem Entwurf des Marquis de La Fayette, der bereits im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg aufseiten der Kolonnisten gekämpft hatte. In der Präambel und den 17 Artikeln der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte gibt es keinen Verweis mehr auf Gott und Religion oder ein Naturrecht. Die Freiheit und Gleichheit aller Bürger begründen sich implizit allein durch den freien Willen des Menschen und seiner Befähigung zu vernünftigen Einsichten.

     

    Die Protagonisten der Französischen Revolution gehen also einen entscheidenden Schritt weiter als die Protagonisten des amerikanischen Unabhängigkeitskampfes. Für die französischen Revolutionäre ergeben sich unveräußerliche Menschen- und Bürgerrechte allein aus dem freien Willen des Menschen und den Begriffen der Vernunft. Ein Rekurs auf Gott und die Religion ist dazu nicht erforderlich. Der Prozess der Französischen Revolution ist also der radikale Versuch aufklärerischer Menschen, sich einerseits ideell von Gott und der Natur zu emanzipieren sowie andererseits sich einer ungerechten und anachronistischen politischen Herrschaft zu entledigen. Religiöse und naturrechtliche Anschauungen mögen das Vernünftige und moralisch Richtige je nachdem unterstützen oder auch nicht. Doch allein der freie menschliche Wille in Verbindung mit durch die Vernunft bestimmte Erkenntnis ist autorisiert, moralische Ansprüche als berechtigt oder unberechtigt herausstellen. Insofern gilt 1789 bereits das rund hundert Jahre später von Friedrich Nietzsche in Die fröhliche Wissenschaft aufgestellte Postulat, dass Gott tot sei.

     

    1789 bildet zwar ein historisches Leuchtfeuer im Prozess der Aufklärung. Doch Aufklärung ist ein permanenter und subtiler dialektischer Prozess. So zeigten Horkheimer und Adorno in ihrer im US-amerikanischen Exil während der Nazi-Herrschaft verfassten Schrift Dialektik der Aufklärung, dass bereits in den frühesten Zeugnissen abendländischer Kultur, rekurrierend auf Homers Epos Odyssee, der subtile Geist von Aufklärung sich entfaltete. Rationales Denken wendet sich gegen Mythen und Götter. Das Konzept des individuellen Ichs, ausgestattet mit wachem Verstand und wendiger List, aufgezeigt an Homers Protagonisten Odysseus, bildet sich gegen äußere Naturgewalten. Aufklärung ist keineswegs ein Prozess friedfertiger und kontemplativer Erkenntnisgewinnung, sondern vielmehr ein Widerstreit zwischen beharrenden und vorantreibenden Kräften. Aufklärung selbst tendiert sogar dazu, wo sie die Oberhand gewinnt, sich totalitär zu gebärden. Horkheimer und Adorno konstatieren in der Dialektik der Aufklärung: „Was die Menschen von der Natur lernen wollen, ist, sie anzuwenden, um sie und die Menschen vollends zu beherrschen.“ Aufklärerisches Denken, Demokratie und Rechtsstaat nach heutigen Maßstäben bilden beileibe keine zwangsläufige stabile Synthese.

     

    Nachhaltige aufklärerische Strömungen schufen ab dem ausgehenden Mittelalter in Europa neue geistes- und naturwissenschaftliche Betätigungsfelder und brachten bahnbrechende Erfindungen (etwa Kompass, Buchdruck, ballistische Schusswaffen) hervor, die vor allem wirtschaftlichen Fortschritt ermöglichten und politische Veränderungen hervorriefen. Auf diesen vielfältigen aufklärerischen Strömungen und dem wissenschaftlichen Geist, den sie insbesondere in Europa etablierten, fußte die Französische Revolution. Genaugenommen begann das Projekt der Moderne aber bereits im antiken Griechenland.

     

     

    Zweitens: Gibt es historisch gesehen moralische Fortschritte? Markus Gabriel verweist sowohl auf moralische Verbesserungen in der Gesellschaft als auch auf Rückschläge; „Es gibt rückwärtsgewandte Entwicklungen in der heutigen Zeit, eine Verdunkelung des Denkens (…)“.

     

    Nicht abtretbare Menschenrechte sind moralisch begründet und beanspruchen universale Geltung. Wer in den Genuss ungeteilter Menschen- und Bürgerrechte gelangt, entscheiden demnach weder Geburt noch Herkunft noch irgendeine wie auch immer geartete Gruppenzugehörigkeit. Doch die Erkenntnis universaler moralischer Werte und ihre gesellschaftliche Umsetzung vollzieht sich begrifflich diskursiv und gesellschaftlich exklusiv.

     

    Die politischen und gesellschaftlichen Rechte in der antiken attischen Demokratie galten nur für die Schicht der freien männlichen Bürger Athens, nicht aber für Frauen, Sklaven oder Auswärtige (Barbaren). Insofern hat ein moralischer Fortschritt stattgefunden. Während in der attischen Demokratie, die als fortschrittlichste Staatsform in der Antike gilt, politische Freiheits- und Bürgerrechte lediglich einer elitären Minderheit zur Verfügung standen, gelten diese heute in Ländern mit einer libertären Demokratie für alle Staatsbürger des betreffenden Landes. Wenn es aber eine für alle Menschen verpflichtende Moral ohne Rückgriff auf Gott oder ein Naturrecht gibt, muss sich diese aus der Vernunft behaupten lassen. Denn allein durch vernünftige Anschauungen lassen sich universale Werte wie die Menschenrechte postulieren. Und lassen sich solche Werte aufstellen, so gelten sie uneingeschränkt auch da, wo sie politisch noch nicht durchgesetzt oder wieder zurückgedrängt wurden.

     

    Wenn sich eine Gesellschaft, wie etwa die bundesdeutsche, zu allgemeinen Menschenrechten (Freiheits-, Gleichheits- und Unverletzlichkeitsrechte gegenüber dem Staat und auch allgemein in der Gesellschaft) per Verfassung bekennt, so erkennt sie damit zugleich an, dass diese Rechte überall Geltung besitzen sollten, also auch in Staaten wie beispielsweise China oder Nordkorea, wo diese Rechte keine staatliche Akzeptanz besitzen. Das bundesdeutsche Asylrecht etwa hängt untrennbar mit den verfassungsmäßig garantierten universalen Menschenrechten zusammen.

     

    Während der Französischen Revolution und nach der Proklamation der Menschen- und Bürgerrechte durch die Nationalversammlung kam es zu politisch organisiertem Terror und massiver Gewaltsamkeit durch diverse revolutionäre Gruppierungen, was schließlich zu einem allgemeinen Bürgerkrieg und der Herrschaft der Guillotine führte. Um die tatsächliche Moral vieler französischer Revolutionäre war es also nicht allzu gut bestellt. Wer als politischer Feind und Abweichler verdächtigt oder erkannt wurde, dem wurde kurzerhand der Prozess gemacht, was in den meisten Fällen zu einem gewaltsamen Ableben führte. In der Tat bildete sich im revolutionären Frankreich erstmals eine Gesinnungsdiktatur heraus, die durchaus als Prototyp später auftretender totalitärer Systeme gelten kann. Genügte es in den alten politischen Herrschaftssystemen noch, dass der Einzelne der staatlichen Macht lediglich gehorchte, so geht die Gesinnungsdiktatur wesentlich weiter. Es genügt nicht mehr einfach zu gehorchen, man muss vielmehr von der jeweiligen Ideologie des Systems restlos überzeugt sein und ist dazu verpflichtet, das jederzeit unter Beweis zu stellen, indem man sich ständig zu ihr bekennt.

     

    Es ist offenkundig, dass die Französische Revolution ihre Ideale bereits in dem Moment verriet, als sie diese proklamierte. Aus eben diesem Grund stießen die Taten der Französischen Revolution keineswegs nur bei ihren natürlichen politischen Gegnern, den Aristokraten und Klerikern, auf Ablehnung. Insbesondere große Teile des Bürgertums und der Intellektuellen jener Zeit fühlten sich von dem Terror und der ausufernden Gewaltsamkeit der revolutionären Gruppierungen in Frankreich abgestoßen. Für jene, die sich vom Weg der Revolution abwandten, steht an besonders prominenter Stelle Friedrich Schiller, der in der Schrift Über die ästhetische Erziehung des Menschen die These vertritt, dass Schönheit und Kunst als solche den Menschen frei machen. Schiller folgerte aus den Gräueln der Revolution, dass vor der politischen Freiheit die individuelle Einübung der Freiheit liegen müsse. Dies gelinge vor allem durch Einführung in die Schönheit. Zahlreiche ursprüngliche Sympathisanten der Revolution und ihrer Ideale wandten sich desillusioniert von ihr ab und suchten fortan einen moralischen Fortschritt auf unpolitische Weise zu befördern und kooperierten dabei durchaus mit dem mehrheitlich reaktionären Adel.

     

    Die erste Französische Republik sowie ihre politischen Nachfolgekonstruktionen bis hin zum ersten Kaiserreichs unter Napoleon Bonaparte traten die von ihnen auf die Fahnen geschriebenen Menschenrechte mit den Füßen. Die einzige stabile, wenngleich auch eingeschränkte Demokratie in Europa im 19. Jahrhundert lässt sich allenfalls in der konstitutionellen Monarchie Großbritanniens finden, die im Vergleich zu den Herrschaftsformen auf dem Kontinent ausgesprochen liberal agierte. Stabile liberale Demokratien, die auf einer Verfassung mit Gewaltenteilung basieren, bildeten sich im kontinentalen Westeuropa erst nach den beiden großen Kriegen und der Überwindung totalitärer Systeme gegen Mitte des 20. Jahrhunderts heraus. Für Teile des mittel- und osteuropäischen Raums war dies erst ab 1990 nach der Implosion des Sowjetimperiums der Fall.

     

    Moralische Verbesserungen und Rückschritte vollziehen sich in einer verschlungenen dialektischen Bewegung. Was in einem Moment als geschichtliche Wendung zum moralischen Fortschritt erscheint, kann sich im nächsten bereits als Zersetzung desselben erweisen. So überholt und ungerecht die Ständeordnung des Ancien Regime auch war, sie war zu keinem Zeitpunkt ihres historischen Bestehens vergleichbar mit dem Jakobinischen Terror und erst recht nicht mit den Gräueln, die später durch kommunistische und faschistische Diktaturen verübt wurden.

     

    Auseinandersetzungen zwischen Reaktion und Fortschritt kann man jederzeit auch innerhalb der Europäischen Union verfolgen. Diese bildet beileibe nicht bloß ein ökonomisches und politisches Zweckbündnis, sondern ist vielmehr auch als eine Union gemeinsamer moralischer Werte verfasst. Gemäß der Verfassung der Europäischen Union garantiert sie innerhalb ihres Einflussbereiches uneingeschränkte allgemeine Menschenrechte und umfassende Rechtsstaatlichkeit. Die Achtung dieser Werte und der Einsatz für ihre Förderung sind ausdrückliche Voraussetzungen für den Beitritt eines Staates zur Union. Eine Verletzung dieser Werte durch einen Mitgliedsstaat kann durch Suspendierung der Mitgliedschaft geahndet werden. Der Schwachpunkt dieser Möglichkeit besteht freilich darin, dass der Europäische Rat die Feststellung der Verletzung von Grundrechten in einem Mitgliedsland einstimmig fällen muss. Bei Sanktionen der Europäischen Union in der jüngeren Vergangenheit gegen Ungarn und Polen bildeten beide Länder einfach ein Trutzbündnis. Bei Sanktionen gegen Ungarn stimmte Polen dagegen und umgekehrt. Dieses Bündnis könnte dadurch ausgehebelt werden, dass die Rechtsstaat-Verletzungsverfahren gegen beide Länder gleichzeitig betrieben werden. Doch bislang wurde nichts in dieser Richtung umgesetzt.

     

    In beiden Ländern sind seit geraumer Zeit ultrakonservative, nationalistische Regierungen im Amt, die systematisch die Rechtsstaatlichkeit in ihren Ländern aushöhlen. So schränken diese die Unabhängigkeit der Gerichte ein, beschneiden die Presse- und Meinungsfreiheit, unterstützen die Korruption und beschneiden die Rechte von politischen Gegnern, Minderheiten und Migranten. Wenn Regierungen massiv und systematisch Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte verletzen und überdies dabei sind, ihre mögliche künftige Abwahl zu erschweren oder gar unmöglich zu machen, sollten sie in der Europäischen Union weder etwas zu suchen noch zu finden haben. Die Mitgliedschaft solcher Länder sollte unverzüglich suspendiert werden. Und selbstverständlich sollte jeglicher finanzieller oder sonst wie gearteter materieller Zufluss aus Mitteln der Europäischen Union umgehend gestoppt werden. So wie die Verhältnisse derzeit in der Europäischen Union austariert sind, können Regierungen wie die zurzeit im Amt befindlichen in Ungarn und Polen weiter Verfassungsrechte und Demokratie zurückdrehen und sich dabei üppig sprudelnder Zuschüsse aus den europäischen Budgets erfreuen und in den europäischen Institutionen nahezu ungestört antieuropäische und antidemokratische Stimmungen verbreiten. Dies zu tolerieren, ist gewiss kein Gebot politischer Weisheit.

     

    Ein anderes historisches Ereignis für die Gefährdung von Demokratie und Freiheit könnte durchaus durch die im November dieses Jahrs anstehende Präsidentschaftswahl in den Vereinigten Staaten heraufbeschworen werden (vgl. dazu Operation Wahlbetrug in DER SPIEGEL, 22.08.2020). Dieser Bericht liest sich wie der Entwurf zu einem dystopischen Roman: Was seit einiger Zeit die liberalen und fortschrittlichen Kräfte in den USA eint, ist die Sorge um das zu erwartende Verhalten des aktuellen Präsidenten Donald Trump bei einer möglichen Niederlage in den kommenden Präsidentschaftswahlen am 03. November. Seit Monaten und Wochen liegt sein Herausforderer, der Demokrat Joe Biden, in der Wählergunst deutlich vorne. Doch das bedeutet längst nicht, dass die Trump-Ära nach einer vierjährigen Regierungsperiode lediglich noch Stoff für historische Analysen böte.

     

    Wegen der Corona-Pandemie wollen die meisten Bundesstaaten zur Briefwahl übergehen. Das möchte der amtierende Präsident ausdrücklich verhindern, weil er dadurch Nachteile für sich befürchtet. In der Folge hat er einen seiner Vertrauten an die Spitze der eh angeschlagenen Behörde US Postal Service gehievt, der unter dem Deckmantel eines Sparprogramms Briefverteilungsanlagen und Briefkästen demontieren ließ, um so Briefwahlen von vorneherein zu konterkarieren.

     

    Die entscheidende Frage, die sich vielen seiner politischen Gegner stellt, ist die:

    Wie reagiert Trump, wenn am Wahltag nach den ersten Hochrechnungen er und sein Gegenkandidat Kopf an Kopf liegen? Wird er den Wahlsieg dann vorzeitig für sich proklamieren und die Wahl für beendet erklären? Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das schwer- und anfällige Wahlsystem in den USA zu manipulieren.

     

    Zwischen dem Wahltag und der Präsidentenvereidigung am 20. Januar liegen überdies elf Wochen. Hätte Trump die Wahl vom 03. November verloren, bliebe ihm genug Zeit, seinen Einfluss zu nutzen, um sich dennoch im Amt zu halten. Zuzutrauen ist ihm das auf jeden Fall. Als Präsident hat Trump eine unglaubliche Machtfülle. Er befehligt die größte Streitmacht der Erde und ihm unterstehen 15 Ministerien mit zahllosen Bundesbeamten, worunter sich auch diverse Geheim- und Sicherheitsdienste befinden.

     

    Was auch immer eintreten wird, der aktuelle Präsident wird nicht so einfach seinen Stuhl räumen. Angesichts dieser und anderer Szenarien beschäftigen die Demokraten inzwischen eine kleine Armee von Anwälten, um bei fragwürdigen und außerrechtlichen Manövern Trumps schnell reagieren zu können.

     

    Hinzu kommt, dass sich in den Vereinigten Staaten über 300 Millionen Waffen in Privatbesitz befinden. 70 Prozent dieser Waffen gehören angeblich Anhängern des amtierenden Präsidenten. Dazu kommt, dass die US-amerikanische Polizei insbesondere in den Großstädten mit modernstem militärischem Gerät ausgestattet ist. Das bildet eine sehr explosive Gemengelage, in der ein Handstreich Trumps gegen ein für ihn ungünstiges Wahlergebnis und damit gegen die Verfassung schnell zum blutigen Bürgerkrieg eskalieren könnte. Die seit über 200 Jahren existierende Demokratie in den Vereinigten Staaten könnte ihre härteste und bedrohlichste Bewährungsprobe seit den Sezessionskriegen erleben. Im schlimmsten aller denkbaren Fälle könnte dies das Ende der US-amerikanischen Demokratie zugunsten eines autokratisch geführten Regimes unter einer Trump-Dynastie bedeuten.

     

    Wir leben gegenwärtig angesichts des weltweiten Aufkommens und Erstarkens antilibertärer und autokratischer Regimes sowie des Klimawandels und der noch längst nicht überwundenen Corona-Pandemie gewiss in relativ dunklen Zeiten. Menschenrechte und Moral werden in vielen Ländern der Erde nach wie vor mit den Füßen getreten. In demokratisch geführten Ländern erstarken Werterelativismus und Nihilismus sowie die Bereitschaft, wissenschaftlich begründete Fakten und Erkenntnisse in Abrede zu stellen beziehungsweise diese konsequent zu ignorieren. Stattdessen werden gesellschaftlich relevante Themen oft mit rein emotionalen Argumenten besetzt und bieten als Ergebnis häufig die persönliche Verteufelung anders Denkender – Stichwort: Shitstorm und soziale Medien. Im Klima einer emotional hoch aufgeladenen Unkultur des Streits wird der Wert von objektiver Wahrheit von vielen nahezu bestritten und aberkannt. Wer am lautesten schreit und dabei die meisten Follower-Klicks verzeichnet, sieht sich im Diskurs vorne. Mit Demokratie und moralischen Werten hat das freilich nicht im Entferntesten zu tun. Vielmehr triumphiert die digital flankierte Ignoranz. Ein aktuelles Beispiel für die Missachtung von Vernunft und den zu Geboten stehenden Spielregeln bieten die in zahlreichen Innenstädten stattfindenden Demonstrationen gegen Einschränkungen

    persönlicher Freiheitsrechte aufgrund der Corona-Pandemie. Bei diesen Zusammenkünften, zuletzt fanden in Berlin fast vierzigtausend Demonstranten zusammen, werden vorsätzlich Mindestabstand und Maskenpflicht missachtet und somit beträchtliche Infektionsketten in Kauf genommen. Angesichts solchen Verhaltens, dass unbeteiligte Mitmenschen einer Infektion preisgibt, kann man sehr zutreffend ein Stelldichein von „Covidioten“ ausmachen.

     

     

    Drittens: Auf die Behauptung und Frage der SPIEGEL-Redakteurin Susanne Beyer, letztlich sei die Aufklärung ein Projekt des Westens und damit bliebe die Forderung nach einer Besinnung auf Werte wie Freiheit und Menschenwürde wohl auf diesen Teil der Welt beschränkt, antwortet Markus Gabriel: „Überhaupt nicht. Das sind universelle Werte.“ Darauf erwidert die Redakteurin, dass diese These wohl leicht als postkoloniale Pose empfunden würde. In den nichtwestlichen Teilen der Welt hieße es immer, der Westen denke, alles, was er erfunden habe, sei für die ganze Welt gut. Diese Behauptung hält Markus Gabriel für Nonsens. Denn sonst wären diese Werte ja nicht universell.

     

    Die SPIEGEL-Redakteurin liegt mindestens insofern richtig, als das, worauf Markus Gabriel sich bezieht, in der Tat Begriffe und Werte sind, die wesentlich im deutschsprachigen, anglophonen und frankophonen Raum seit Beginn der sogenannten Neuzeit entwickelt und politisch erkämpft wurden. Teile Westeuropas und die Vereinigten Staaten von Amerika waren überdies ab dem 19. Jahrhundert für lange Zeit die wirtschaftlich, technisch und wissenschaftlich innovativsten Regionen auf der Welt. Von daher ist es kein Zufall, dass dort die Geisteswissenschaft, namentlich die Philosophie, ein Konzept universaler moralischer Werte entwickelte, das sich durch Vernunft begründet.

     

    Unter den Geisteswissenschaftlern und Philosophen der Aufklärung jener Zeit ist insbesondere Immanuel Kant (1724 bis 1804) hervorzuheben. Sein Werk Kritik der reinen Vernunft kennzeichnet den Beginn der modernen Philosophie. Für die hier anstehenden Zusammenhänge zwischen Aufklärung, Moral und Demokratie ist vor allem sein zweites Hauptwerk Kritik der praktischen Vernunft von Bedeutung. Dieses Werk enthält eine Theorie der Moralbegründung und gilt als eines der wichtigsten Werke praktischer Philosophie überhaupt.

     

    In diesem Werk geht es im Wesentlichen um die Frage: Was ich tun soll - im Gegensatz zur Leitfrage der Kritik der reinen Vernunft, die sich damit auseinandersetzt, was ich wissen kann. Um zu moralischen Gesetzen zu gelangen, die sich aus der Vernunft begründen lassen und für oder gegen die ich mich in jeder Situation entscheiden kann, unterstellt Kant, dass Freiheit und Autonomie des Willens prinzipiell möglich sind. Diese Annahme ist für Kant nicht völlig unproblematisch. Denn einerseits ist Kant ein Determinist, für den gilt, dass in der Natur vor allem künftige Ereignisse durch Vorbedingungen eindeutig festgelegt sind. Andererseits ist er dennoch davon überzeugt, dass Menschen in einem anspruchsvollen Sinn frei seien, da sie über die Fähigkeit verfügten, unabhängig von den Natursachen etwas hervorzubringen, mithin eine Reihe von Begebenheiten ganz von selbst anzufangen, wie er sich ausdrückt.

     

    Für Kant ist praktische Freiheit letztendlich empirisch nachweisbar und mit kausaler Determiniertheit vereinbar. Deshalb bestimmt Kant transzendentale Freiheit als eine Unabhängigkeit der Vernunft selbst von allen bestimmenden Ursachen der Sinneswelt. Entscheidungen sind praktisch frei, sofern sie auf vernünftige Überlegungen zurückgehen. Sie sind transzendental frei, wenn diese Überlegungen selbst frei sind.

     

    Weiter argumentiert Kant, dass das handelnde Subjekt schließlich auch „Ding an sich“ sei: Es habe einen intelligiblen Charakter. Dieser sei nur über den Verstand erfassbar und bringe als solcher Handlungen (Gedankendinge) frei hervor. Da aber „Dinge an sich“ nicht zeitlich sind, kann der intelligible Charakter des Subjekts selbst nicht durch zeitlich frühere Ursachen determiniert sein. Wir könnten also nur dann tun, was wir sollen, wenn wir im transzendentalen Sinn frei wären. Und genau deshalb seien wir im transzendentalen Sinn frei und nicht durch Natursachen kausal determiniert. Und diese Freiheit bilde die Basis für jedes Sittengesetz, das aufzeigt, was ich tun soll. Wäre der Mensch nicht in diesem Sinn frei, wäre er ein reiner Spielball von Sinneseindrücken, Trieben und Leidenschaften. Die Kritik der praktischen Vernunft unterscheidet deshalb zwischen Neigung und Pflicht.

     

    Nachdem Kant gezeigt hat, dass sich der menschliche Wille als autonom bestimmen lässt, schreitet er fort und leitet die Prinzipien der Moral direkt aus der Vernunft ab, statt sich auf einen göttlichen Willen zu berufen. Kernstück der Kritik der praktischen Vernunft ist die Lehre vom kategorischen Imperativ. Kant nennt ihn Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne“. Diese Regel ist unbedingt und deshalb kategorisch. „Denn reine an sich praktische Vernunft ist hier unmittelbar gesetzgebend.

    Der Mensch ist als Vernunftwesen frei und kann nach Grundsätzen der Vernunft handeln. Die reine Vernunft nötigt den von aller Kausalität entbundenen freien Willen, sich einem Gesetz, dem sogenannten Sittengesetz zu verpflichten. Kant zufolge gründet sich die Menschenwürde in unserer Fähigkeit zur Autonomie des Willens. Weil wir in unseren Entscheidungen und ihren Umsetzungen frei sind, müssen wir unseren Mitmenschen zugestehen, dass sie in ihren Entscheidungen ebenfalls frei und autonom sind. Dies allein schon verpflichtet uns zur Anerkennung ihrer Würde.

     

    Diese Folgerungen waren, 1788 erstmals in Riga publiziert, sehr originell und so bis dato noch nicht gedacht und formuliert worden und übten dementsprechend auf die Intellektuellen und Geisteswissenschaftler in Europa und Nordamerika nachhaltigen Einfluss aus. Immanuel Kant war sozusagen ein Philosophie-Star jener Zeit. An seinem Werk führte in der Philosophie fortan kein Weg mehr vorbei.

     

    Es lässt sich also argumentieren, dass Kants kategorischer Imperativ mit all seinen Implikationen erstens sowohl intellektuell als auch methodisch ziemlich wasserdicht ist und zweitens zugeben, dass die Schlüsse, die sich aus seinen Überlegungen ableiten lassen, insbesondere die damit behaupteten universalen Menschenrechte, für alle menschlichen Individuen gelten. Der kategorische Imperativ und seine unmittelbaren Konsequenzen bilden schließlich ein reines Gesetz der Vernunft und sind damit zeit- und ortsunabhängig.

     

    Doch geisteswissenschaftliche und somit auch philosophische Wahrheiten, so unbestritten sie in den Fachkreisen auch sein mögen, was sie allerdings meistens nicht sind, weisen einen wesentlichen Unterschied zu Wahrheiten und Gesetzen in den Naturwissenschaften auf. Wenn Sir Isaac Newton etwa nachweist, dass ein kräftefreier Körper stets in Ruhe bleibt oder sich geradlinig mit konstanter Geschwindigkeit bewegt, so gilt dieses Gesetz überall mit der gleichen unabänderlichen Konsequenz. Seine Geltung hängt also nicht davon ab, ob ich dieses Gesetz als konkretes Individuum verstanden und anerkannt habe. Das bedeutet, physikalische und chemische Prozesse verhalten sich für jeden, der sich mit ihnen auseinandersetzt, gleich. Kenne und berücksichtige ich diese Gesetze, versetzt mich dies etwa in die Lage, Maschinen zu konstruieren, die arbeitsfähig sind. Kein Chinese oder Koreaner käme auf die Idee, die Mechanik Newtons in Abrede zu stellen, weil dieser nun einmal ein westlicher, weißer Mann gewesen ist, der einer kolonialen und arroganten Kultur angehörte.

     

    Philosophische Wahrheiten sind dagegen völlig anders beschaffen. Ich kann sie ignorieren oder verleugnen, ohne dass ich dadurch den geringsten Nachteil erführe. Sich auf geisteswissenschaftliche und philosophische Wahrheiten einzulassen, ist an sich schon ein Akt geistiger Freiheit. Ich kann es tun oder auch unterlassen. Unterlasse ich es, trifft mich kein göttlicher Blitz, tue ich es, erfahre ich keinen göttlichen Beistand. Geisteswissenschaftliche und philosophische Einsichten sind durchaus prädestiniert für freie Geister.

     

    Aus Kants Implikationen zum allgemeinen Sittengesetz folgt freilich noch etwas ganz anderes, das Kant durchaus bewusst gewesen ist: Als menschliches Individuum verfüge ich aufgrund meines intelligiblen Wesens über die Freiheit und Autonomie des Willens. Demnach kann ich jederzeit das allgemeine Sittengesetz erkennen und anerkennen und mich in jeder konkreten Situation danach richten. Doch weil mein Wille eben frei und autonom ist - die notwendige und hinreichende Bedingung zum kategorischen Imperativ - kann ich mich jederzeit auch gegen das allgemeine Sittengesetz entscheiden. Der freie Wille ermöglicht mir, mich alternativ für das radikal Böse zu entscheiden und damit absichtsvoll die Würde meiner Mitmenschen zu untergraben.

     

    Der berühmt-berüchtigte Marquis de Sade, von Horkheimer und Adorno neben Kant und Nietzsche als einer der unerbittlichen Vollender der Aufklärung apostrophiert, zeigt dann auch triumphierend, dass sich aus der Autonomie des Willens in Kombination mit scharfsinnigen Argumenten bündig die Antithese zu Kants allgemeinem Sittengesetz postulieren lässt. Der Marquis entschied sich mit völlig rationalen Begründungen gegen das allgemeine Sittengesetz zugunsten der Maximierung persönlicher Triebbefriedigung. Statt der sittlichen Pflicht erhob De Sade die willkürliche Neigung zum Gebot jeden Handelns. Andere zu unterwerfen und auszubeuten ist für De Sade völlig rational und sinnvoll, sofern sich daraus Befriedigung ziehen lässt. Vernunft und Rationalität können durchaus zu konstruktiven Schlussfolgerungen gelangen, die etwa schlüssig die Beachtung der Würde der Mitmenschen einfordern. Doch destruktive Neigungen können ebenfalls mit der gleichen rationalen Stringenz behauptet werden, auch wenn sie gegen jedes Sittengesetz verstoßen. Es kommt eben auf den jeweiligen Charakter an, der einen autonomen Willen verfügt. Und den Willen, unabhängig von seiner zufälligen charakterlichen Struktur, setzt aufklärerisches Denken per se als frei voraus. Es ist also jederzeit möglich, sich im bösen Sinn zu entscheiden. Der Marquis proklamierte dabei einen rational begründeten Nihilismus, der einem verbrecherischen Lustprinzip verhaftet ist und sich Kants Imperativ diametral entgegenstellte. Aufklärung involviert somit die gefährliche Tendenz, die Werte, für die sie in einem Moment eintritt, im nächsten radikal zu untergraben. Diese grundsätzliche Ambivalenz bürgerlicher Aufklärung reflektieren bis heute zahlreiche öffentliche Diskurse in der libertären Welt der Demokratien.

     

    Beinahe alle libertären Demokratien des Westens leiden heute an Krisen, die sich ökonomischen, sozialen, institutionellen und auch ökologischen Dysfunktionalitäten verdanken und das Vertrauen der Regierten in die Regierenden schleichend untergraben haben. Während relativ kleine Gruppen immer wohlhabender und reicher werden, haben immer größer werdende gesellschaftliche Gruppen das Nachsehen. Die liberalen Demokratien geraten dadurch unter Druck. Nationalistisch und rechtsextrem eingestellte Bewegungen und Parteien haben seit der globalen Finanzkrise in 2007/08 an politischem Einfluss gewonnen. In Polen und Ungarn regieren, wie bereits erwähnt, seit Jahren extreme Nationalisten, deren Programme offenbar vorsehen, rechtsstaatliche Prinzipien und Institutionen auszuhebeln. In Italien, einem chronischen Krisenland innerhalb der Eurozone, konnten extrem eingestellte Antieuropäer für einige Zeit die Regierungsgeschäfte übernehmen. In Frankreich könnten die Rechtsnationalen (Rassemblement National) durchaus den nächsten Präsidenten der Republik stellen. Und in Deutschland sind die Rechtsnationalen (Alternative für Deutschland) im Bundestag und in fast allen Landtagen präsent. Die Europäische Union zeigt sich dagegen uneins und zerstritten. 2016 votierten die Briten erfolgreich für den Austritt aus der Union. Die Europäische Zentralbank befeuert seit 2012 mit immer größeren Geldspritzen (Outright Monetary Transaction) den Weg in eine höchst umstrittene Schuldenunion, in der die wirtschaftlich relativ starken Staaten Nordeuropas die chronisch schwachen Südeuropäer dauerhaft finanzieren sollen. Angesichts der Corona-Pandemie hat die Europäische Kommission unter der Etikette der Wiederaufbauhilfe nun Eurobonds etabliert, die allerdings in keinem Vertrag zur Währungsunion vorgesehen waren. Der Streit ums Geld hat durchaus das Zeug, Europa bereits in naher Zukunft zu sprengen. Den Umsturz des Französischen Ancien Regime 1789 leitete übrigens auch eine lange schwelende Finanzkrise des Staates ein. Jenseits des großen Teiches sieht es keinen Deut besser aus. Es bleibt lediglich zu hoffen, dass die kommenden Präsidentschaftswahlen in diesem Jahr die US-amerikanische Demokratie nicht noch weiter beschädigen oder sogar außer Kraft setzen werden.

     

    So, wie die Dinge heute im Westen liegen, bildet er gewiss keinen Hort politischer und ökonomischer Stabilität, der als Vorbild für andere Regionen in der Welt dienen könnte. Die Aufklärung ist, soweit sie die Geisteswissenschaften betrifft, eindeutig ein Projekt des Westens geblieben. Das aus der Vernunft begründete allgemeine Sittengesetz sowie die allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte sind an und für sich universal. Doch ihre Geltung und Verwirklichung lassen sich nicht mit rein akademischen Argumenten in jedem x-beliebigen Kultur- und Herrschaftskreis etablieren. Das zeigen unter anderem die Niederschlagungen von demokratischen Aufständen wie in China 1989 (Tiananmen) oder des sogenannten arabischen Frühlings 2010 oder auch die aktuelle Knebelung der demokratischen Opposition in Hongkong. Die demokratischen Kräfte in diesen Regionen rekrutieren sich in der Regel aus relativ kleinen Schichten gebildeter junger Menschen, die vielleicht auch mit den Schriften Kants vertraut sein mögen, die aber innerhalb ihrer eigenen Länder und Kulturen weitestgehend isoliert agieren. Die bürgerliche Aufklärung des Westens ist ein Projekt geblieben, das sich andernorts höchstens ansatzweise verbreiten jedoch nie verfestigen ließ. Überdies droht dieses Projekt nun in seiner eigenen Hemisphäre schleichend untergraben zu werden.

     

    Die Besinnung auf Freiheitswerte und Menschenwürde, wie es der Philosoph Markus Gabriel einfordert, hat durchaus Not und ergibt Sinn. Doch wie könnte das gelingen?

    Möglicherweise über eine offensive Beeinflussung des öffentlichen Diskurses in den Medien und der Politik und zwischen den verschiedenen Wissenschaftsbereichen. Dazu müssten sich Wissenschaftler und Intellektuelle aus den unterschiedlichsten Fachdisziplinen für eine Diskussion über eine neue realistische Moral, wie es Markus Gabriel in seinem Buch Moralischer Fortschritt in dunklen Zeiten nennt, hergeben. Und dies können auch nur Wissenschaftler und Intellektuelle, die in libertären Demokratien leben und arbeiten, leisten, ohne zu riskieren, ausgeschaltet zu werden, wie dies allenthalben in totalitären und autokratischen Systemen geschieht.

     

    Der öffentliche Diskurs im Westen bedürfte einiger hygienischer Spielregeln:

    Erstens: Er sollte vor allem von willkürlichen Behauptungen sowie unsachlichen Verunglimpfungen und Anfeindungen entlastet werden. Zweitens: Bevor sich jemand öffentlich äußert, sollte er sich gründlich über das anliegende Thema informieren und das Für und Wider verschiedener Argumente abwägen. Bevor man zu einem sensiblen Thema ein öffentliches Statement abgibt, sollte man mit anderen, die mutmaßlich nicht die eigene Auffassung teilen, darüber diskutieren und die andere Meinung durchaus ernst nehmen. Drittens bedarf die öffentliche Diskussion gerade über komplexe Themen wie Klimawandel, europäische Schuldenunion oder Viren-Pandemie fundierter Fachanalysen und kritischer Reflexion. Viertens: Es käme darauf an, den eigenen Standpunkt nicht für todernst zu nehmen. Jeder kann sich irren und hat ein berechtigtes Anrecht auf Nachsicht, wenn er sich irrt. Wer läge schon immer richtig! Adorno kreierte einen der für ihn typischen Sätze, als er feststellte, dass Philosophie das Allerernsteste sei, so ernst aber auch wieder nicht.

     

     

    Viertens: In dem Interview trifft Markus Gabriel im Zusammenhang mit der Corona -Pandemie die Aussage: „Wir haben ja - historisch vielleicht zum ersten Mal in dieser Größenordnung – das moralisch Richtige getan und uns für die Gesundheit entschieden, und zwar um beinahe jeden ökonomischen Preis.“

     

    Im Zuge der Corona-Pandemie kam es in Deutschland zu einem mehrwöchigen Shutdown und Lockdown, der die wirtschaftlichen und sozialen Tätigkeiten auf ein Minimum reduzierte. Die Folge davon war, wie erwartet, ein ökonomischer Einbruch ohnegleichen verbunden mit einer rasanten Zunahme an Staatshilfen, um den wirtschaftlichen Totalabsturz zu verhindern. Der deutsche Staat hat mehr als eine Billion Euro für Notkredite, Garantien und direkte Hilfen bereitgestellt. Das sind mehr als ein Drittel des jährlich in Deutschland erwirtschafteten Sozialprodukts.

    Hinzu kommt noch die erhebliche Beteiligung Deutschlands am europäischen Wiederaufbaufonds von insgesamt 750 Milliarden Euro. Die brisante Frage, wie diese Schuldenaufnahmen sich künftig auswirken und wie sie letztendlich abgetragen werden sollen, steht hier nicht zur Debatte. Es geht vielmehr um die moralische Qualität der durch die Regierung getroffenen Entscheidungen.

     

    Zur damaligen Lage: In Deutschland traten im Januar dieses Jahres die ersten COVID-19 Infektionsfälle auf. Im Februar waren dann nach und nach in allen Bundesländern Infektionsfälle zu verzeichnen. Einige maßgebliche Mediziner und Virologen in Deutschland gingen bereits zu diesem Zeitpunkt von einer pandemischen Verbreitung des Erregers SARS-COV-2 mit einer beträchtlichen Mortalitätsrate aus, wenn die Infektionsketten nicht rasch unterbrochen und zurückverfolgt würden. Aus diesem Grund rieten sie der Politik bereits im Februar zu drastischen Maßnahmen, um eine Tragödie zu vermeiden, die sich gerade in Italien abzuzeichnen begann, wo der Erreger in Europa offensichtlich zuerst eintraf und verbreitet wurde.

     

    Die Weltgesundheitsorganisation erklärte die COVID-Infektion am 30. Januar zur gesundheitlichen Notlage mit internationaler Tragweite. Am 9. Februar überstieg die Gesamtzahl der international verzeichneten Todesfälle mit über achthundert bereits die Gesamtzahl der ersten SARS-Pandemie aus den Jahren 2002 und 2003. Am 19. März meldete Italien erstmals mehr Todesopfer als China, wo das Virus seinen Ausgangspunkt genommen hatte. Anfang März noch schätzte das Robert Koch-Institut die Gefahr für die Gesundheit der Bevölkerung in Deutschland als mäßig ein. Nach einem Treffen der Bundeskanzlerin Angela Merkel mit den Ministerpräsidenten der Länder am 13. März appellierte sie an die Bevölkerung, alle nicht notwendigen Veranstaltungen abzusagen und die Sozialkontakte auf ein Minimum zu beschränken. Zu diesem Zeitpunkt wurden in verschiedenen Bundesländern bereits Großveranstaltungen verboten und Kitas und Schulen geschlossen. Im weiteren Verlauf des März teilte die Bundeskanzlerin mit, dass Gaststätten und Freizeiteinrichtungen geschlossen würden. Sie kündigte auch an: „Um die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen seien Maßnahmen nötig, die es so in Deutschland noch nicht gegeben habe.“ Das Robert Koch-Institut änderte die Gefahreneinschätzung für die Bevölkerung und stufte sie nun als sehr hoch ein. Am 22. März einigten sich Bund und Länder auf ein bundesweites Kontaktverbot, statt Ausgangssperren zu beschließen. Die Maßnahmen galten zunächst bis zum 19. April.

     

    Mit maßgeblich für die von der deutschen Regierung beschossenen umfassenden Shutdown- und Lockdown-Maßnahmen waren Berichte und Bilder aus Italien, wo das Virus in Europa zuerst zuschlug und sich vor allem im Norden Italiens teilweise mit verheerenden Folgen ausbreitete. Die italienischen Behörden reagierten in den besonders betroffenen Gebieten bereits im Februar mit der Abriegelung ganzer Gemeinden und verhängten drastische Ausgangssperren. Am 9. März entschied die italienische Regierung drastische Bewegungseinschränkungen für das gesamte italienische Staatsgebiet. Mitte März war die Lombardei mit bereits fast zwölftausend Infektionsfällen und beinahe tausend Toten die am stärksten betroffene Region in ganz Europa. Ende März meldete Italien bereits über hunderttausend registrierte Infektionsfälle und über zehntausend Tote. Schockierend waren die täglichen Fernsehbilder, die ein völlig überfordertes Gesundheitssystem zeigten. Man sah Pflegekräfte und Mediziner, die ununterbrochen im Einsatz waren und dennoch der Lage nicht Herr wurden. Vielerorts mussten Ärzte darüber entscheiden, wen sie behandeln und nicht behandeln würden und gerieten damit in die fatale Lage, über Leben und Tod einzelner Patienten verfügen zu müssen. Auch die Bilder von den Abtransporten der vielen Leichensäcke durch das Militär und die etagenweise Stapelung von Särgen in Kühlhäusern, die ursprünglich für die Lagerung von Lebensmitteln vorgesehen waren, werden für viele Menschen unvergessen bleiben.

     

    Grundsätzlich ist festzustellen, dass die Pandemie, die Anfang des Jahres über Europa und den Rest der Welt hereinbrach, sowohl medizinisch als auch gesellschaftlich ein neues Phänomen darstellte. Weder den Wissenschaftlern noch den Politikern waren damals alle relevanten Informationen zu dem Virus und seiner

    Dynamik bekannt und sind es zum Teil bis heute nicht. Man musste sich damit begnügen, auf Sicht zu navigieren. Das bedeutete für die Politiker, dass sie sich intensiv von Virologen und Epidemiologen beraten lassen mussten, um dringende gesellschaftspolitische Entscheidungen treffen zu können, wie etwa das Verbot von Großveranstaltungen, das Schließen von Kitas und Schulen oder das Einhalten von Mindestabständen, Maskenpflicht sowie andere gebotene Hygienemaßnahmen.

    Erschwerend kam hinzu, dass auch unter den Wissenschaftlern nicht durchweg Konsens über eine optimale Strategie und ihre Einzelmaßnahmen zur Eindämmung des Infektionsgeschehens herrschte. So verfolgt Schweden aufgrund des Rates von Anders Tegnell, Chef-Epidemiologe der öffentlichen Behörde für Gesundheit in Schweden, das Konzept der sogenannten Herdenimmunität. Dieses Konzept strebt eine hohe Durchseuchungsrate in der Bevölkerung an, um so eine relativ hohe Immunität in der Gesamtbevölkerung herzustellen. Zu diesem Konzept gehört, dass Risikogruppen wie ältere Menschen und solche mit Vorerkrankungen sehr lange in einem Quarantänezustand verharren müssen, während es für den Rest der jüngeren und nicht vorerkrankten Bevölkerung so gut wie keine Bewegungseinschränkungen und andere lästigen Verbote gibt. Dieses Konzept bietet vor allem den Vorteil, dass die Wirtschaft nahezu unbehindert weiterarbeiten kann. Vergleicht man die COVID-19 Toten pro einhunderttausend Einwohner je Land, so verzeichnete Schweden im August bereits fast 57 Mortalitätsfälle, während es in Deutschland dagegen nur knapp elf waren. Entsprechend umstritten ist der von Schweden gewählte Weg in der Pandemie. Natürlich bleibt offen, ob sich der schwedische Weg im Falle einer zweiten Welle doch noch auszahlt, weil die schwedische Bevölkerung dann insgesamt eine höhere Immunisierungsrate aufweisen dürfte als etwa die deutsche. Andere Länder wie Großbritannien und Niederlande, die zu Beginn der Pandemie ebenfalls die Strategie der Herdenimmunisierung verfolgten, verwarfen diese rasch, als die Mortalitätsraten bedrohliche Ausmaße annahmen.

     

    Grundsätzlich hat die deutsche Regierung in der Krise bislang vieles richtig gemacht.

    Deutschland ist verglichen mit vielen anderen Ländern relativ gut durch die erste Welle gekommen. Es kam zu keinem Zeitpunkt zu einer Überforderung des Gesundheitswesens. Auch für eine zweite Welle ist das deutsche Gesundheitswesen gut aufgestellt. Es wurden tausende zusätzliche Intensivbetten und Beatmungsmaschinen bereitgestellt, die hoffentlich auch in Zukunft nicht benötigt werden. Über achtzig Prozent der deutschen Bevölkerung hält die durch die Regierung getroffenen Maßnahmen für richtig. Viele halten sogar weitgehendere Beschränkungen für wünschenswert. Die Deutschen scheinen eben mehrheitlich ein Volk zu sein, das sich auf der sicheren Seite wähnen möchte. Lieber ein zu viel an Sicherheitsvorkehrungen als ein zu wenig.

     

    Welchen moralischen Grundsätzen war die deutsche Politik in Bund und Ländern verpflichtet, als sie die schwierigen und folgenschweren Entscheidungen zum flächendeckenden Shutdown und Lockdown traf? Diese Grundsätze leiten sich unmittelbar aus dem deutschen Grungesetz ab. In Artikel 1 heißt es, dass die Würde des Menschen unantastbar ist, was allgemein die Anerkennung der Menschen- und Bürgerrechte beinhaltet. Artikel 3 bestimmt, dass jedem ein Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person zusteht. Dass bedeutet, dass die physische Existenz und ihr Schutz zusammen mit der Freiheit an oberster Stelle rangieren. Zu den aus der Verfassung garantierten Freiheitsrechten gehören unter anderem auch die Schulpflicht sowie die freie Berufsausübung. Artikel 13 bestimmt, dass jeder das Recht hat, sich frei zu bewegen.

     

    Freiheits- und Schutzrechte zählen zu den höchsten praktischen Rechtsgütern, die per Verfassung zugesichert und moralisch begründet sind. In der Pandemie nun gerieten genau diese beiden Rechtsgüter in Konflikt. Wollte man die Bevölkerung vor Infektionsketten, Erkrankung und möglichem Tod schützen, mussten aus medizinischer Sicht diverse Freiheitsrechte temporär radikal einschränkt werden. Berufsfreiheit, Schulpflicht sowie Bewegungs- und Kontaktfreiheit, wurden für einige lange Wochen strikt eingeschränkt, was für viele Menschen zu starken wirtschaftlichen und psychosozialen Belastungen führte. Zahlreiche berufstätige Alleinerziehende mussten plötzlich von zu Hause arbeiten und dabei gleichzeitig ihre Kinder bespaßen und/oder mit unterrichten. Viele Selbständige und Arbeitnehmer sahen ihre ökonomische Existenz bedroht. Kranke und ältere Menschen in Senioren- und Pflegeheimen waren von heute auf morgen von ihren Angehörigen getrennt. Es gab in dieser Zeit Sterbefälle, in denen die nächsten Angehörigen dem Sterbenden nicht zur Seite stehen konnten. Das ist durchaus Stoff, aus dem sich menschliche Dramen und Tragödien entwickeln.

     

    Dennoch musste hier abgewogen werden, welche Rechtsgüter in einer konkreten Gefahrenlage Vorrang vor anderen haben. Es ging also gewissermaßen um eine Rangordnung der grundlegenden Werte in einer libertären Demokratie. Bei dieser Abwägung kommt rational begründete Vernunft ins Spiel, die die konkrete Lage berücksichtigt. Freiheitsrechte sind auf Dauer gewiss unabdingbar für ein lebenswertes und würdevolles Leben. Schränkt ein libertärer Staat einen Teil dieser Freiheiten ein, ist dies nur möglich, wenn er dadurch ein anderes absolutes Recht schützen kann, hier die Unversehrtheit von Gesundheit und Leben. Hat der Staat sich entschlossen, bestimmte Freiheitsrechte zugunsten des Unversehrtheitsrechts einzuschränken, ist er zugleich verpflichtet, mit allen zu Geboten stehenden Mitteln die Ursache für die Gefahrenlage zu beseitigen oder wenigstens so weit einzudämmen, dass sie nicht mehr eine unmittelbare, allgemeine Bedrohungslage darstellt. Ist dem libertären Staat, dies gelungen, ist er verpflichtet, die Einschränkungen der Freiheitsrechte zügig und zugleich mit Augenmaß zurückzunehmen.

     

    So oder ähnlich mögen die Regierenden in unserem Land räsoniert haben. Jedenfalls bewiesen ihre Entscheidungen weitestgehend Moralität und Augenmaß, was für gewählte Politiker in schnelllebigen Zeiten gewiss keine Selbstverständlichkeit ist.

     

    Doch beharrliche Moralität und konsequentes Augenmaß werden sich kaum in solchen Situationen entfalten, in denen eine Gefahrenlage zunächst lediglich eine mit großer Wahrscheinlichkeit zu erwartenden Möglichkeit darstellt, die sich erst in Zukunft auswirken wird. Ein schlagendes Beispiel dafür ist das Phänomen des Klimawandels. Die gefährlichen Dynamiken eines anthropogen erzeugten Klimawandels wurden bereits in den Neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts von Wissenschaftlern erkannt und beschrieben. Die Gegenmaßnahmen, was in diesem Zusammenhang zu tun und zu unterlassen sei, standen bereits damals fest. Doch eine Klimakonferenz nach der anderen verschob die international erforderlichen Anstrengungen, um den Klimawandel wirksam zu begrenzen. Die Folge davon ist, dass heute nichts Besseres mehr bleibt, als unter enormem Aufwand allenfalls noch eine bedingte Schadenbegrenzung zu erreichen.

     

    Menschen neigen leider dazu, einer Gefahrenlage erst dann gebührend zu begegnen, wenn die Gefahrenlage bereits bedrohliche Ausmaße angenommen hat. In einer konkreten Gefahrenlage agieren sie oft wie Helden, während sie sich gegenüber einer erst für die Zukunft absehbaren Gefahr oft fahrlässig leichtsinnig oder lethargisch verhalten.

     

     

    Abschlussbemerkung:

     

    Die sogenannte Schreckensherrschaft der Französischen Revolution bildete vor allem die Periode von Juni 1793 bis Ende Juli 1794. Sie war gekennzeichnet durch die Unterdrückung aller Menschen, die verdächtigt wurden, Gegner der Revolution zu sein. Die Terrorherrschaft wurde von einem Komitee, bestehend aus zwölf Männern, geleitet, dem sogenannten Wohlfahrtsausschuss. Zuerst wurde er von Georges Danton angeführt, dann gewann zusehends Maximilien de Robespierre die Führung.

    In dieser Periode wurden über zwanzigtausend Überwachungsausschüsse gebildet, die den Zweck verfolgten, alle konterrevolutionären Aktivitäten zu unterdrücken. Ein Revolutionstribunal führte die Prozesse gegen politische Täter durch. Gegen seine in den meisten Fällen tödlichen Urteile war keine Berufung möglich. Robespierre erklärte dazu im Februar 1794 vor dem französischen Nationalkonvent, dass der Terror nichts anderes sei als unmittelbare Gerechtigkeit; er sei ein Ausfluss der Tugend. Terror sei eine Konsequenz des allgemeinen Prinzips der Demokratie, angewendet auf die dringendsten Bedürfnisse des Vaterlandes.

     

    Wie gesagt, diese perfide Tugend durch Terror-These wurde 1794 verkündet. Arthur Blairs (alias George Orwell) dystopischer Roman 1984 wurde 1949 veröffentlicht und kann als Reflex auf die 1945 untergegangene Naziherrschaft und die damals zu den Siegermächten gehörende Sowjetdiktatur verstanden werden.

     

    Der in diesem Roman verwendete Begriff vom Neusprech („Newspeak“) bezeichnet eine Sprache, die aus politischen Gründen künstlich modifiziert wurde. Neusprech dient in der von Blair beschriebenen sozialistischen Diktatur Ozeanien dazu, nach und nach die Alltagssprache zu verdrängen und den Wortschatz zu verengen, um ein differenziertes und kritisches Denken zu erschweren. Die Mittel von Neusprech sind unter anderem Euphemismen, Neologismen und Umdeutungen von geläufigen Begriffen. Aus den Gefängnissen und Foltereinrichtungen des Systems werden dann sprachlich „Lustlager“, aus dem dahinterstehenden Ministerium das „Ministerium für Liebe“, aus politischen Gefangenen werden „Gedankenverbrecher“ generiert. Mit diesem Ummodeln von Begriffen wird klares Denken nach und nach vernebelt und der Sprachkörper pervertiert. Mir scheint, das erste geeignete historische Vorbild zu dieser Dystopie bilden die Aktivitäten des „Wohlfahrtsausschusses“ (Comité de salut public), dessen Name angesichts seiner Aktivitäten schon ein originärer Euphemismus gemäß der Machart von Neusprech ist. Robespierres Umdeutung von Gewalt und Terror gegen Andersdenkende zu Taten für Tugend, Freiheit und Demokratie qualifiziert ihn gewiss für das Amt eines „Großen Bruders“.

     

    Die Französische Revolution leitete einen nachhaltigen gesellschaftspolitischen Wandel in Europa ein, dies jedoch sowohl zum radikal Besserem als auch zum radikal Schlechterem. Libertäre und gewaltengeteilte Demokratien gehen ebenso auf die Revolution von 1789 zurück wie die totalitären Staaten kommunistischer und faschistischer Ausprägung. Bürgerliche Aufklärung verbessert einerseits die Bildung und das kritische Räsonieren der Citoyens, andererseits kippt sie um in die Gesinnungsdiktatur, die jedem nicht nur vorschreibt, dass er zu gehorchen habe, sondern dass seine Gedanken per se nicht frei sein dürfen. Sie liefert so gesehen ebenso die Ausstattung zum libertären wie zum vollends autoritären Modell von Gesellschaft. Aufklärung ist libertär und totalitär zugleich.