Philosophieren mit Kindern und Erwachsenen

Wozu neu erfinden?

Eduard Kaeser über neue Technologien und wie wir unsere Autonomie wieder zurückgewinnen können

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    Ein Gedankenexperiment

    Monika ist eine brilliante Wissenschaftlerin. Sie führt mit grossem Eifer Experimente durch und tüftelt stets an neuen Erfindungen. Um Zeit zu sparen, erfindet Monika immer neue Maschinen und Roboter, die ihr beim Erfinden neuer Maschinen und Roboter helfen.

    Eines Tages kommt ihr die Idee in den Sinn, einen Roboter zu erfinden, der von sich aus neue Roboter erfindet. Um einen solchen Roboter zu erstellen, kreiert Monika eine hochintelligente künstliche Intelligenz und sie berechnet die ultimative Formel für Innovation und Kreativität, die sie dem Roboter einprogrammieren will. Monika unternimmt grosse Anstrengungen, um diesen Roboter zu realisieren und nach paar Jahren hat sie es geschafft: Der Roboter ist fertig!

    Soll Monika den Roboter anschalten?

     

    Unsere Autonomie zurückgewinnen

    Wir sind auf dem Weg zu diesem Roboter. Oder sagen wir vorsichtiger: es scheint so. Ein Szenario macht die Runde in der postindustriellen Welt: Das Szenario einer Zukunft, die uns nicht mehr nötig hat. Das heisst, heute eröffnet sich eine Zukunftsperspektive, in der Maschinen nicht nur immer kleiner und effizienter, sondern auch zur Replikation fähig sein und möglicherweise den Menschen in einem postbio­logischen Evolutionsschub verdrängen werden. Ein ganzes Arsenal neuer Technologien – Nanotechnologie, Gentechnologie, Künstliche Intelligenz, Robotik – scheint dem Menschen jenes Schicksal in Aussicht zu stellen, welches der Ökonom Wassily Leontief einmal den Pferden voraussagte: „Wenn man Pferde durch Traktoren ersetzt, wird man die Pferde deswegen nicht besser behandeln. Man wird sie liquidieren.“

    Die Phraseologie der Innovation bedient sich meist einer Rhetorik, die Altes herabwürdigt, um Neues umso strahlender erscheinen zu lassen. Das ist ihre inhärente Logik: Verbessern kann man nur da, wo etwas nicht gut genug ist, oder wo man etwas als nicht gut genug darstellt. Aber selbst wenn man nun feststellen muss, dass der Fortschritt auf weiten Gebieten zu einer Übernahme von körperlichen und intellektuellen Funktionen durch Geräte geführt hat, ist der Schluss von der Übernahme auf die Überwindung schlicht verstiegen. Mindestens dann, wenn er im Ton der triumphierenden Unaus­weich­lichkeit vorgetragen wird ( zu dem – naturgemäss – Euphoriker und Apokalyptiker neigen).

    Vielleicht müsste man ein anderes Szenario wählen. Es setzt an bei der Frage: Warum für alles, was wir können, immer etwas Neues erfinden? Wäre es nicht auch sinnvoll, herauszufinden, was wir alles können? Wissen wir überhaupt, was wir alles können? Damit möchte ich eine Dialektik ansprechen, die uns am direktesten, am eigenen Leib betrifft. Nennen wir sie die Dialektik von Zerstreuung und Sammlung. Sie manifestiert sich in jedem Gerätegebrauch, wird durch die neuesten Technologien nur besonders scharf akzentuiert.

    Zerstreuung meint dabei nicht einfach den Spiel-, Spass- und Zeitvertreibcharakter von Videogames und Cyberworlds, sondern die allesdurch­dringende Tendenz, unsere täglichen Arbeiten, Aufgaben, Problemlösungen, Bedürfnisbefriedigungen in Prozeduren und Module zu fragmentieren, und damit das Leben in technisierten Kontexten immer mehr in Bedienungs- Wartungs- und Reparaturfunktionen aufzulösen.

     

    Es gibt einen Punkt, wo all diese Zerstreuung nach einer entgegengesetzten Bewegung ruft, nach Sammlung. Ich glaube, wer einigermassen bei Sinnen ist, kennt diesen Primärreflex gegen die Aufsplitterung. Ob man nun Briefmarken oder Kaffeedeckel sammelt, im Keller eine Modelleisenbahn betreibt, ein eigenes Flugzeug bastelt, einen Spaziergang über Feldwege oder durch städtische Passagen macht, für Freunde ein Essen kocht, vielleicht selber Bier braut und im Garten ein paar Gurken zieht – all diesen Praktiken ist eines gemeinsam: ihr sammelnder Charakter. Und zwar sammeln sie nicht nur verstreute Dinge oder Orte in einer kohärenten Tätigkeit, sie versammeln sie um eine Mitte, einen Fokus: um mich selber. Sie nehmen mich zusammen.

    Letztlich machen solche vitalen Lappalien das Leben zu einem Gut, das es nicht nötig hat, besser zu werden. Sie sind die Geste des Lebens gegen dessen Ersatz. Sie bedeuten keineswegs Verzicht auf das Gerät und seine Innovationen. Aber sie appellieren immer, mit wieviel Technologie auch ausgestattet, an die Handfestigkeit, die Körperfestig­keit des Lebens. Wir Modernen haben enorm viel Geist in das Gerät investiert. Nun käme es darauf an, ebensoviel Geist in die Wiederentdeckung des Körpers als in eine ausgleichende Zivilisationsleistung zu stecken. Wir rüsten heute den Körper um zum verfügbaren Gerät, zur benutzbaren Oberfläche, zum Anschluss-Modul. Mag sein, dass wir dieser Zivilisation nicht entkommen. Mag sein, dass sie eine neue Stufe des Menschseins in einer anbrechenden Epoche der „Posthumanität“ markiert. Gerade deshalb wäre an eine Idee von Zivilisation zu erinnern, die Sinne und Körper nicht einfach als Last begreift, sondern als Fokus des Humanen - es ist die Idee einer technisch gerüsteten Zivilisation bei Sinnen.

     

    Das wäre eine Form von Autonomie, die wir von der Technologie zurückgewinnen sollten: Die Grundhaltung einer überlegten und umsichtigen Renitenz gegenüber all jenen verführerischen Angeboten, unser Handeln und Denken an Apps und Gadgets zu delegieren: sie zu „verbessern“. Unverbesserlichkeit gegenüber den Anmassungen technologischer Perfektionsvisionen ist auch eine Chance.