Von Anna W. von Huber

Vom Spurenlesen der Erinnerungen

Ein Essay gegen das Vergessen

 Ein Essay für das Verbinden

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    WANKENDE TREPPEN

     

    Kurz, es ist gut, auch fabelnd zu denken. Denn so vieles eben wird nicht mit sich fertig, wenn es vorfällt, auch wo es schön berichtet wird.1

     

    In dieser einen fabelhaften Himmelsatmosphäre stehst du wankend auf Treppen, weil du dich veränderst, weil du dich bewegst. Das Material der Treppen ist aus Holz. Es ist ein dunkelbraunes Holz, das dich an den ersten Besuch deiner betrübten Freundin Clara bei ihren Eltern zurückversetzt. Diese eigene Sprache verknüpft mit den unzähligen Holzvertäfelungen an einer weißen Wand wird in deine Erinnerungen eingebrannt sein. Das Festessen, das es jeden Tag gab, das du obwohl du kein Fleisch essen willst, mit seiner warmen Atmosphäre genossen hattest. Wie ein Schleier, der sich von dir zieht, löst sich dieses Familienbild langsam auf. In dieser Himmelsatmosphäre siehst du einige aufeinanderfolgende Bilder, die dich seit diesem Moment in deinen tagsüber vorhandenen Realitäten formen. Jedes einzelne Bild gleicht einem Gemälde, das sich nicht bewegt, wird zu einem Gemälde deiner fortlaufenden Erinnerung. Diese Bilder sind in deinem Traum aneinandergereiht. Claras Elterns Wände waren voll von diesen klassisch aneinandergereihten Familiengemälden, welche man entweder in Traditionshäusern oder in Gaststätten erwarten würde. Die Gemälde repräsentierten und werden im Laufe deiner Beziehung mit Clara Anderes zum Vorschein bringen. Sie erzählen keine Geschichte, wie man sie in einer logischen Reihenfolge gewöhnlich zu hören bekommt.

    In diesem Traum bewegst du dich Treppen entlang. Und in jeder verändernden Bewegung erscheint ein neues Bild. Die Linearität der Zeitabfolge wird vielmehr eine Atmosphäre der Integration.

    Du hast keine Angst, dass du Treppen nicht erreichst. Eine Atmosphäre der Verbindungen umgibt dich. Die Gespräche, die in Bildern ihren Ausdruck finden, sind lebhaft stumm. Die meisten Bilder werden in schwarz - weiß gehalten. Es herrscht im Allgemeinen die Farbe Hellblau. Das Hellblau erinnert dich an das Schwimmbecken, das dich mit Allem in Momenten des Eintauchens vereint.

    Es scheint, als würden die Erinnerungen, die in diesem Traum in Bilderrahmen eingraviert wurden, dazu führen, dass du dich selbst in einer Beobachterposition wahrnehmen wirst. Während du diese Gemälde beachtest, bist du stets auf den Treppen in wandelnder Bewegung. Das Gemälde mit Claras Familie zeigt dir nun einen eingeschnittenen Kopf des Großvaters. Körper und Geist passen nicht zusammen. Es muss nachträglich hinzugefügt worden sein. Dir wurde erzählt, dass Claras Großvater 1983 ein ganzes Jahr auf Forschungsreise seiner Ethnologie Studien war. Dieses Bild, das du betrachtest, stammt aus dem Jahr 1983. Deine Perspektive und deine Erinnerung zu Claras heiler Familienwelt, die du nie hattest, verändert sich. Du kannst nicht mehr an deine vorherigen Erinnerungen anknüpfen, so sehr du es auch versuchst. Je weiter du gehen wirst, desto häufiger wiederholen sich diese Bilder am Seitenrand deines Himmelsraumes.

    Die Perspektive wird anders.

    Du blickst auf ein Gemälde und erkennst andere Gesichter. Bis dahin hast du diese Gesichter nicht wahrnehmen können. Sie verschwinden. Neue Hände tauchen auf. Ein Schwimmbecken. Du steigst Treppenstufen aufwärts abwärts rechts links. Du siehst dich auf der linken Seite in das Meer eintauchend - das erste Mal mit Clara von einer Klippe gesprungen. Ab und an spürst du Gefühle, durch das Betrachten von Stimmen und Geräuschen der Vergangenheit. Das Selbst tritt distanziert auf. Das Ich bleibst du. Du blickst zurück und das Gemälde mit dem Schwimmbecken ist nun ein Gemälde einer Biene, die um ein Schwimmbecken fliegt.

    Wohin fliegt sie?

    Wer ist der Junge, an dem Pommesstand und warum siehst du einen gelben Punkt in all diesen schwarz – weiß Bildern leise aufleuchten?

     

    „Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst.“2

     

    Ich bin mir allein. Und doch nicht mit mir zusammen. In dieser Erinnerung, wenn ich mich darin zurückersehne. Wenn Ich zurückdenke an all das, was prägend war für mein bisheriges Leben, das scheinhaft Nichtprägende wurde gleichsam ausgelöscht, sehe ich Treppenformen. (Das glaubt das lyrische Ich.) Darin steht ein Ich. Dieses Ich wird in wechselnden Verhältnissen auf und abwärts spazieren, rennen, schlendern und fallen. Das Verfassen von Tagebüchern lässt mich all das in einer Spur erleben, die das heutige hier träumende Ich neu erfahren wird. Das Betrachten von zufällig geschossenen Fotos oder von Videoaufnahmen liefert mir eine weitere Perspektive, nämlich die der äußeren Geschichte meiner Erinnerungen. Ich sehe mich in diesem Bild nicht. Ich bin in diesem Bild nicht Ich und doch bin ich es. Ich nicht, schrie sie. Aber vielleicht habe ich Teile an mir selbst, die dazu gehören, Teile, die mich prägen und nicht definieren. Das Ich der Vergangenheit, das Es, vielleicht das zukünftige Ich. Die schreienden Worte sind für mich in einem tonlosen Bild fixiert und lösen sich, sobald Ich in eine andere Richtung blicke.

     

    Du stehst im selben Treppenhaus, beschreitest dieselben Stufen. Erneut. Wiederholt. Und die Stufen ändern ihre Richtung. Nicht erneut. Nicht wiederholt, in ihrer Richtung, in ihrer Größe, mit anderen Perspektiven. Und je öfter du gehen wirst, desto mehr wirst du beginnen, die Stufen zu lesen, wirst du beginnen andere Stufen zu lesen, Strukturen zu finden, Anderes zu finden und versuchen dich in allem zu integrieren.

     

    Ich bin mir allein

    Du bist dir allein

    Vielleicht sind wir

    zusammen ein

    das ALL EIN

    All one

     

     

    PHILOSOPHISCHE KOMPOSITIONEN

     

    Das Vergessen vergisst sich selbst, weil es sich perspektivisch erinnern wird.

    Ist es möglich, dass wir nicht sehen können, was wir als Ich in diesem vergangenen Zustand sehen konnten? Was passiert mit unseren Erinnerungen, wenn wir sie nicht konservieren können? Entschwinden sie und wenn ja wohin? Was passiert mit Claras Familienatmosphäre, wenn das lyrische Ich diese eine Atmosphäre auf dem Gemälde nicht mehr wahrnehmen wird?

    Dieser Essay soll einen ersten Gedanken in einer fortlaufenden Bewegung darstellen. Es soll damit dem Stil einer literarischen Einführung in ein für die Autorin selbst faszinierend und wundervoll spannendes Thema dienen: Was bedeutet es, sich zu erinnern?

     

    Verbindungen - Wo befinde Ich mich eigentlich?

     

    Zunächst will ich annehmen, dass alles wird und nichts aufhört zu werden. Alles neu zu Entdeckende, alles Wissenschaftliche war Etwas und tritt durch eine Ermöglichung der Perspektive in ein Neues ein. Noch bleibt es offen, was in diesem Zusammenhang mit Nichtlebendigem passiert. Fokussieren wir uns zunächst auf alles lebendige Wesen.

     

    Obwohl du Claras Familienatmosphäre zu diesem Moment nicht mehr sehen konntest, löste sich das Gemälde nicht auf. Es war lediglich von deiner Treppenstufe nicht mehr auf diese eine Sichtweise zu erkennen. Doch du hattest noch Zuversicht...

     

    Mit dieser Annahme kann man weitere Schritte begehen:

     

     

    A) Die VS - Annahme: VERNICHTENDE STRUKTUREN

     

    Dies ist die Annahme, dass sich alles verbinden kann und wieder trennen und auflösen wird. Die Bilder ihrer Erinnerungen wurden mit weiteren Treppenstufen entfernt, abgelöst von den neuen Bilderrahmen, die mächtiger waren. „Als Rhizom oder Mannigfaltigkeit betrachtet sind die Fäden des Marionettenspielers nicht an den angeblichen Willen eines Künstlers oder Marionettenspielers gebunden, sondern an die Mannigfaltigkeit von Nervenfasern, die in anderen, mit den Fäden der ersten verbundenen Dimensionen eine zweite Marionette bilden.“ 3 Es ist die Annahme, dass alles willkürlich gesetzt und beliebig zerstört und wieder neu gesetzt werden kann - ohne Orientierung, voller kleinen Ansichten. Hier gibt es keine universellen Wahrheiten, die bereits bestehen. Alles wird durch Machtkämpfe ausgetragen und strukturiert. Alles wird Perspektive.

     

    Kleist, Lenz oder Büchner haben eine andere Arte zu reisen und sich zu bewegen, von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hindurch, eher gehen und kommen als aufbrechen und ankommen. [...] Zwischen den Dingen bezeichnet keine lokalisierbare Beziehung, die vom einen zum anderen geht und umgekehrt, sondern eine Pendelbewegung, eine transversale Bewegung, die in die eine und die andere Richtung geht, ein Strom ohne Anfang oder Ende, der seine beiden Ufer unterspült und in der Mitte immer schneller fließt. 4

     

    Das positive Moment dieser Annahme, ist der Versuch einer Auflösung vorherrschender Bedingungen, sowie der Auflösung eines Dogmatismus und eines Dualismus.

    Das negative Moment dieser Annahme ist, dass gerade durch diese Offenheit die Möglichkeit einer Gleichgültigkeit und eines absoluten Werterelativismus und Nihilismus bestehen kann. Damit kann man im extremen Fall nicht mehr begründen, warum Leid verhindert und Freude vermehrt werden soll. Der postmoderne Vordenker Friedrich Nietzsche liefert in seinem Werk: Also sprach Zarathustra eben diese Problematik. Er geht soweit, dass er es als legitimes Mittel anerkennt, wenn Zarathustra die Menschen, die nicht erkennen werden, zunichte führt, damit seine Ideen, die er sich selbst gesetzt hat, weiterleben können. 5

    Das Prinzip der Leidverminderung kann den gleichen Stellenwert einnehmen wie das Prinzip der Leidvermehrung. Nichts ist vorgegeben oder liegt zugrunde. Es geht allein darum, diese Strukturen zu verstehen, sie aufzulösen und wieder neu zu setzen. Es herrschen Dynamiken.

     

    Was passiert mit denjenigen Erinnerungen, die scheinbar nicht prägend sein sollten für mein weiteres Leben? Clara ist in meinem jetzigen Zustand keine prägende Person, werde ich das Familienbild verlieren, weil sich meine Perspektive verändert hatte, weil es mächtigere Dynamiken in meinem Ich zustand gibt? Müsste Ich Angst und Furcht empfinden, sähe sie eine Treppe, die nicht zu erreichen ist.

    Die Möglichkeit des Fallens und Zerstörens und Entschwindens besteht in diesem Kosmos.

     

     

    B) Die AV– Annahme: ALLES VERBINDET

     

    Dies ist die Annahme, dass sich alles verbindet und zu einem größerem Ganzen vereint. Es gibt eindeutige Stufen und Erkenntnisse, die es zu verstehen gilt.

    Es ist festgelegt, welche Eigenschaften gegenüber welchen Eigenschaften höherwertig sind. Alles verbindet sich, durch bewusste Wahrnehmung. Wir, als lebendige Wesen, verbinden uns zu einem größerem Ganzen. Max Scheler beschreibt in seinem Werk Wesen und Formen der Sympathie die Liebe als diejenige Kraft, die es ermöglicht den Menschen höherwertig zu sehen. Durch die Liebe, die man gegenüber den Anderen empfindet, erkennt man eine Erhöhung des Wesens des Anderen.

     

    Eben darin, daß Liebe eine Bewegung ist in der Richtung auf „Höhersein des Wertes“ liegt ihre (gleichfalls durch Platon schon erkannte) schöpferische Bedeutung. Das heißt nicht, die Liebe schaffe erst die Werte selbst oder das Höhersein der Werte. [...] Haß dagegen ist darum „vernichtend“ im strengsten Wortsinn, da er (für diese Sphären) faktisch die höheren Werte vernichtet und darum auch als Folge die Augen des kognitiven Vorziehens und Fühlens für sie stumpf und blind macht.6

     

    Das positive Moment an dieser Theorie ist es, dass man versucht ist, Orientierungen zu geben, an welche sich lebendige Wesen halten können. Es wird eine Richtung der Treppenstufen zu erkennen sein, die zu einem größeren Ganzen führen kann. Es wird versucht, Leid zu vermindern, da Leid als niedrigere Stufe gesehen wird und Freude zu erhöhen, da Freude als höhere Stufe gesehen wird.

    Das negative Moment an dieser Theorie besteht nun zugleich in eben diesem positiven Moment. Es verleitet, die Eingrenzungen zu eng zu sehen und in einen Dogmatismus zu verfallen. Man geht davon aus, dass das Etwas, was vorgegeben ist, eine Richtung gibt. Der Moment des Werdens wird vernachlässigt.

     

    In diesem Kosmos sollte Clara die Treppen aufwärtssteigen, nicht abwärts und dabei eine immer breitere Perspektive erhalten, über die Gemälde ihrer Erinnerungen.

     

    Die Biene verendete

    Weil sie den Panzer

    Der hetzte

    Nicht sah.

     

     

    C) Die MF- Annahme: MITEINANDER FÜREINANDER

     

    Alles verbindet sich miteinander, füreinander und verbindet sich nicht in eine bereits vorhandene Treppenstufe, sondern entscheidet selbst, welche Stufen es beschreiten will. Das ist der entscheidende Unterschied zur vorherigen Annahme. Nur durch ein Füreinander, ein kollektives Denken, werden Verbindungen entstehen können, auf welchen das lyrische Ich ihre Stufen beschreiten kann. Durch dieses Füreinander, beginnen wir als Lebewesen uns und andere höherwertig zu schaffen, weil wir uns verbinden, mit dem vermeintlich Anderen. All one. Wir schaffen Neues und verbinden uns nicht, zu dem, was bereits existierte. Weil nichts bereits an sich existiert. Wir schaffen uns höherwertig und erkennen uns nicht höherwertig an. Linearität wird durch Dynamik ersetzt. Es wird nicht mehr, sondern beginnt sich zu formen, durch strukturelle Verbindungen. Es gibt nicht bereits vorhandene eindeutige Konzepte und Hierarchien, die es zu verstehen gilt. Wir als Lebewesen setzen uns unsere Werte selbst füreinander und nicht für uns selbst als Individuen, wie es Nietzsche forderte. Werte und Hierarchien können nicht entstehen, wenn wir uns nicht auf andere Wesen beziehen.

     

    Ich begann langsam zu begreifen, dass ich, wenn ich verstehen wollte, was mit meinen Erinnerungen passierte, begreifen musste, dass ich bereits immer schon Teil des Flusses war. Ich war niemals nur im Boot sitzend, oder auf den Treppenstufen gleitend außerhalb des Anderen. Ich konnte mich nur verstehen und erkennen, wenn ich zu erkennen lernte, dass ich selbst immer Teil der Gemälde war, die sich mit mir zusammen verändern würden, und dass die Gemälde, niemals sein würden, weil sie sich immer zu verwandeln begannen.

     

    Du hast dich nicht gefürchtet, als du die nächste Treppe nicht erreichen konntest. Ein Gefühl begleitete deinen Traum, dass dir die Zuversicht gab, dass nichts verschwinden würde. Irgendwo wartete eine Treppe, eine Stufe und die Bilder, deine Erinnerungen würden somit nicht verschwinden, weil du sie nicht mehr aus deiner Perspektive wahrnehmen konntest, sondern in ihrem Bild, dass du nicht mehr sehen konntest, bleiben und durch deine örtliche Veränderung nun zu anderen Perspektiven schreiten.

     

    In einem weiteren Essay werde ich auf das Prinzip des Ichs eingehen. Hier wird nun ein kurzer Überblick geliefert werden, um zu verstehen, warum wir Erinnerungen in Spuren lesen sollten und uns selbst als Archäologen der Geschichte verstehen werden.

     

     

    Das Ich, das bleibt und wird

     

    Bei der Geburt ist der Mensch noch nicht sozialisiert, noch in keinerlei Moralsystem eingeführt, er ist „präkonventionell“, dann erlernt er, aus sich selbst und von anderen, ein allgemeines moralisches Schema, dass die Grundwerte seiner Gesellschaft repräsentiert, er wird „konventionell“; im Verlauf seiner weiteren Entwicklung wird er vielleicht über seine Gesellschaft nachzudenken beginnen und dadurch zu einer gewissen Distanz kommen, die ihn zu Kritik und Reformationsansätzen befähigt – er ist mehr oder weniger „postkonventionell“. 7

     

    Das Ich verändert sich und befindet sich in einem dynamischen Prozess. Dadurch verändern sich die Perspektiven der Erinnerungen. Damit wir nun unsere Erinnerungen erreichen, müssen wir lernen in Perspektiven die Gemälde der Geschichte zu betrachten und beginnen wie Archäologen auf Spurensuchen der Erinnerungen zu gehen. – durch Introspektion und Geschichte.

    Das Ich wird sozialisiert. Es wird kultiviert und konstituiert. Das lyrische Ich in diesem Traum erkennt sich nicht. Es erkennt Auszüge aus einem Zustand, an welchen es sich zu erinnern glaubt. Auszüge, die Ähnlichkeiten aufweisen. Ich gehe davon aus, dass wir als Individuen niemals – zumindest in einen Zustand - existieren, dass wir uns selbst immer wieder neu zu setzen beginnen und doch durch Wesenszüge in Uns definieren. Das lyrische Ich erkennt Erinnerungen an ein Gefühl, dass die Bindung zu Clara aufgebaut hatte. Es kann zu diesen Gefühlen nicht zurück gelangen. Ich befindet sich in einer permanenten Bewegungsrotation. Ich kann nicht in das Bild eintreten. Das Bild bleibt und verändert sich in beiden Teilen. Denn nichts wird vergessen, in einem Sinn des Verlierens.

    Die Erinnerungen in diesem Traum erscheinen in Spuren. Wir nehmen in Erinnerung das auf, was wir durch unsere Wahrnehmung mit unserem Körper erfahren und speichern es ab. Erinnerungen setzen sich immer wieder neu. Die Perspektiven sind es, die sich im Laufe des Lebens eines jeden Menschen verändern, dass wir Ereignisse und Erfahrungen aus anderen Blinkwinkel betrachten werden.

     

    Die Spur ist der Grat, jene prekäre Trennlinie zwischen bloßer Turbulenz auf der einen und erstarrtem Muster auf der anderen Seite. Die Spur ist jenes Niemandsland, wo das Ereignis von Wissenschaft und Kunst sich abspielt, der Riß, in dem sich das Neue abzeichnet.8

     

    Wenn ich an diesen Traum denke, so ist es der Gedanke, dass wir als Individuen mit unseren Erinnerungen in Spuren weitertreten. Wir beschreiten vielleicht eine Treppe in unserem Leben. Doch jeder einzelne Augenblick, jeder einzelne Moment des Daseins schenkt uns neue Perspektiven. Es verändert viel. Stellen wir uns vor, dass wir niemals wir selbst sind, dass wir uns in jeden Moment neu entfalten werden. Nicht allein, vielmehr ALL+EINS.

     

    Meine Gedanken sind philosophisch und lyrisch geprägte Gedanken. Ich will Geschichten erzählen. Ich will mit meiner Philosophie versuchen, das, was wir bereits wissen zu erzählen und dabei ein Geschichtenerzähler zu bleiben, der sich stetig verändern wird. Das nun war die Geschichte über eine Treppe, die sich perspektivisch veränderte und eine Geschichte über ein Ich, das sich veränderte und in einem Schwimmbeckengemälde plötzlich eine Biene entdeckte.

     

    1 Ernst Bloch, Spuren, Frankfurt am Main 1985, S. 6.

    2 Vgl. Ernst Bloch, Tübinger Einleitung in die Philosophie, Frankfurt am Main 1970, S. 13.

    3 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Einleitung: Rhizom, in Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 18.

    4 Gilles Deleuze und Félix Guattari, Einleitung: Rhizom, in Kapitalismus und Schizophrenie. Tausend Plateaus, Berlin 1992, S. 41 f.

    5 Vgl. Nietzsche, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für alle und keinen, Leipzig 1891.

    6 Max Scheler, Wesen und Formen der Sympathie, Paderborn 2015 [EA 1923], S. 178.

    7 Ken Wilber, Eros, Kosmos, Logos. Eine Vision an der Schwelle zum nächsten Jahrtausend, Frankfurt am Main 1996, S. 11.

    8 Hans Jörg Rheinberger, Michael Hagner, Bettina Wahrig- Schmidt (hg.) Räume des Wissens: Repräsentation, Codierung, Spur. Berlin 1997, S. 19.