Kulturindustrie und das Primat des Ökonomischen

Wieder eine kulturpessimistische Diagnose im Stil Adornos? Fakt ist, dass die Digitalisierung aller Bereiche etablierte Strukturen durcheinanderwirbelt, verändert, ersetzt, Lücken erzeugt. Im Bereich von Musik und Film stehen dafür Streaming-Plattformen.

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    Theodor W. Adorno gilt üblicherweise nicht als Philosoph, der sich gegenüber neuen Medien aufgeschlossen gezeigt hätte. Insofern, so die Annahme weiter, habe er auch nichts Relevantes zu Fragen des Medienwandels zu sagen. Das berühmte Kapitel zur Kulturindustrie aus der Dialektik der Aufklärung, jenem Werk, das er in den Jahren 1943/44 zusammen mit Max Horkheimer im amerikanischen Exil verfasste, gilt als Beleg: Es dokumentiert, so die geläufige Lesart, dass Adorno keinerlei Verständnis für die damals neuen Medien Film und Rundfunk aufbrachte, ganz im Gegenteil zu der von Walter Benjamin im sogenannten Kunstwerkaufsatz entwickelten Position. Auch seine verständnislose Einschätzung der Jazz-Musik scheint darauf hinzudeuten, dass der Ästhet Adorno, der Komposition bei Alban Berg studiert hatte, aus bildungsbürgerlicher Arroganz den neu auftretenden Formen von Musik und Bild sowie den neuen massenhaften Verbreitungstechniken, auf denen Rundfunk und Film basieren, negativ gegenüberstand. Benjamin dagegen hatte in seinem heute berühmten Aufsatz aus dem Jahr 1936 das innovative Potential der letzteren hervorgehoben: sie stellten die technischen Voraussetzungen für ein echtes Massenmedium zur Verfügung, nicht quantitativ verstanden, sondern im Sinn der produktiven Aneignung durch die Massen.

    Adornos Text geht von diesem Argument des Massenmediums aus und er knüpft an Erfahrungen und Erkenntnisse an, die er im Rahmen seiner Mitarbeit am Radio Research Project machen konnte. Bereits in den ersten Absätzen des Textes weist er auf die Produktionsbedingungen hin, unter denen die Erzeugnisse der neuen Medien hergestellt werden: der große technische Apparat und die arbeitsteilige Herstellungsweise erforderten, anders als in den ‚traditionellen‘ Künsten, einen hohen Kapitalbedarf.  Aus dieser Tatsache resultiere die finanzielle Abhängigkeit der Produktionsfirmen von branchenfremden Kapitalgebern: im Vordergrund stünde die ökonomische Notwendigkeit, investierte Summen wieder einzuspielen. Das somit gegebene Primat des Ökonomischen habe zur Folge, dass das Publikum zu bloßen Konsumenten, zum statistischen Material mutiere, dessen Vorlieben mit Mitteln der Meinungsforschung erfasst werden müssten, um entsprechend erfolgreich Produkte des eigenen Unternehmens auf dem Markt zu platzieren. Diesen ökonomischen Notwendigkeiten entspreche die Selbstdarstellung der Vertreter dieser Branche: „Sie nennen sich selbst Industrien, und die publizierten Einkommensziffern ihrer Generaldirektoren schlagen den Zweifel an der gesellschaftlichen Notwendigkeit der Fertigprodukte nieder.“[1] Dies als ein Grund für den Warencharakter der Produkte.

    Der genannte Zusammenhang von technischen Voraussetzungen und ökonomischem Bedarf, mit dem Adorno das Thema eröffnet, erhält eine bemerkenswerte Aktualität. Jenes statistische Moment, von dem er spricht, trägt auch die Strategien aktueller Streaming-Plattformen, nur dass der Aufwand in gewisser Hinsicht geringer ist als in den Jahren nach 1930. Während jahrzehntelang mit den Mitteln der Marktforschung die Vorlieben des Publikums herausgefunden werden mussten, genügt es heute, mit Hilfe von Algorithmen Klicks auf Musik- oder Filmtitel zu berechnen, um zu eruieren, welche Stile, Themen, Musiker etc. erfolgversprechend sind. Was den Charme direkter Wege und flacher Hierarchien zu tragen scheint, dient den Künstlern am Wenigsten: mit Ausnahme der großen Stars sinken die Einnahmen kontinuierlich. Der finanzielle Verlust durch weniger verkaufte CDs wird nicht ausgeglichen durch die geringen Gebühren, die die Plattformen pro Klick bezahlen. Es sind zunächst die Plattenfirmen, die nach Jahren der Verdiensteinbußen wieder Einnahmen verzeichnen können.[2] Wo diese aber früher mittelfristig in die Zukunft von Musikern unterhalb der Ebene des großen Startums investierten und für geregelte Einkommen sorgten, fallen letztere nun weg.[3]

    Wieder eine kulturpessimistische Diagnose im Stil Adornos? Fakt ist, dass die Digitalisierung aller Bereiche etablierte Strukturen durcheinanderwirbelt, verändert, ersetzt, Lücken erzeugt. Im Bereich von Musik und Film stehen dafür Streaming-Plattformen. Darin steckt durchaus innovatives Potenzial. Adornos Hinweis auf die ökonomischen Strukturen, die sich innerhalb derartiger Prozesse durchsetzen, sollte uns sensibilisieren und die aktuellen Entwicklungen aufmerksam beobachten lassen.  

     




    [1] Max Horkheimer/Theodor W. Adorno: Dialektik der Aufklärung. In: Horkheimer, Max: Gesammelte Schriften Bd. 5: >Dialektik der Aufklärung< und Schriften 1940-1950. Frankfurt/M. 1987, S. 145.
    [2] Vgl. Fellmann, Max/Wagner, Lorenz: Ton, Scheine, Scherben. In: Süddeutsche Magazin, Nr. 43, 26. Oktober 2018, S. 37-44.
    [3] Taplin, Jonathan: Move Fast and Break Things. How Facebook, Google and Amazon have cornered culture and what it means for all of us. New York 2017, S. 33ff.

     


     

    Der Text knüpft an Überlegungen an, die in dem folgenden Aufsatz entwickelt wurden: Kulturindustrie und Entfremdung. Zur Relevanz technischer Infrastruktur innerhalb sozialphilosophischer Überlegungen. In: Richter, Ph./Müller, J./Nerurkar, M. (Hg.): Möglichkeiten der Reflexion. Festschrift für Christoph Hubig. Baden-Baden 2018, S. 275-286.

     

    Frage an die Leserschaft

    Sehen Sie auch kulturoptimistische Aspekte in der aktuellen Entwicklung der Digitalisierung im Bereich Medien (beispielsweise Filme und Streamingdienste)?