Ein Beitrag von H.H.J. Luediger

Von Universalien und Partikularien

"In freier Anlehnung an Wittgenstein: um etwas richtig sehen zu können, muss man zunächst richtig darüber sprechen."

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    Seit der griechischen Antike bis in die Spätscholastik hinein war die Nominalismus-Realismus Dichotomie wichtige Grundlage jedes philosophischen Diskurses, wobei der Realismus dem heutigen Idealismus entsprach. Im scholastischen Disput ging es aber nicht etwa um die Realität von entweder Partikularien (Nominalismus) oder Universalien (Realismus), sondern um den genetischen Primat; verdanken sich die Einzeldinge den Universalien oder erkennen wir diese in den Einzeldingen? Deduktion und Induktion haben hier ihren philosophischen Ursprung. Im 12. Jahrhundert prägt Petrus Abélard die Formel universalia in rebus. Sie besagt, dass weder die Einzeldinge aus den Universalien noch die Universalien aus den Einzeldingen erschlossen werden, denn die Universalien sind in den Dingen. Die Abélardsche Formel bleibt aber aus logischer Sicht wenig zufriedenstellend, denn sie behauptet ein dass, das keiner Beweisführung zugänglich ist. Ich werde nun argumentieren, dass Abélard das Sein der Universalien in den Dingen dahingehend wörtlich versteht, dass es kein vor oder nach, d.h. keinen Prozess ihrer sukzessiven Genese gibt. Wenn dem so ist, kann es entsprechend keinen logischen oder kausalen Zusammenhang zwischen ihnen geben. D.h. Partikularien und Universalien müssen gemeinsam, instantan und prinzipiell unwissbar miteinander verbunden in die Welt kommen. Das Aufregende am scholastischen Disput ist, dass er einer reinen Sprachübung ohne in-Augenscheinnahme des Diskussionsgegenstandes entspricht. Was zunächst vorwissenschaftlich anmutet, gewinnt aber in dem Moment an Substanz, wenn wir voraussetzen, dass jedes legitime Neue ein Absolut Neues sein muss um nicht nur nicht mit dem schon Seienden zu kollidieren, sondern es zu bereichern (augmentieren). Unter diesem Gesichtspunkt wird klar, dass sich die Scholastik der Empirie nicht entzog, sondern schlicht keine Aufgabe für sie hatte; denn was sprachlich evident war bedurfte keiner Besichtigung und was sprachlich nicht evident war konnte per se nicht besichtigt werden. In Abwesenheit jeglicher Empirie stellte sich auch die Frage nach der ‚Realität‘ nicht, da der sprachlichen Evidenz nur das ‚Nichts‘ bzw. der ‚Nonsens‘ gegenüberstand bis mit Roger Bacon die sinnliche Evidenz in Konkurrenz zur sprachlichen trat. Mit ihm sollte sich der Begriff der Erfahrung langsam von ‚im Licht des Wissens‘ zu ‚im Licht der Beobachtung‘ verschieben. Entsprechend verjüngte sich die Beurteilungsbasis wissenschaftlicher Aussagen bis zur heute üblichen Peer-Review, in der aber selbst Gleichgesinnte nicht mehr in der Lage sind ihre Aussagen gegenseitig zu durchschauen und zu bewerten, denn es gibt genau so viele Interpretationen (Modelle) von inzwischen maschinell gewonnen Daten (z.B. LHC, LIGO) wie es Wissenschaftler gibt. Eine bekannte deutsche Physikerin bloggte kürzlich: particle physics now belly up. Nicht viel besser ergeht es der Kosmologie und angesichts der Replikationskrise in Psychologie, Medizin und selbst in den Naturwissenschaften, sowie der sich gegenseitig überbietenden overhyped statements der multidisziplinären Forschungsgebiete (Künstliche Intelligenz, Komplexitätswissenschaft, Nanotechnologie, Neurowissenschaft, etc.) scheint mir der Rückgriff auf ein dem Empirismus vorgängiges Denk- und Wissensmodell mehr als gerechtfertigt. Aber wie kann die Dichotomie von Universalien und Partikularien gedacht werden?

     

    Die Primzahlen sind nicht positiv definierbar, d.h. sie lassen sich nicht nach einer Regel berechnen wie etwa die Reihe der durch zwei teilbaren Zahlen, denn sie sind durch ein Verbot definiert, nämlich dem Verbot der (restlosen) Teilbarkeit durch andere Zahlen als Eins und sich selbst. Man kann daher Primzahlen nur entdecken; sie zeigen sich wenn wir auf sie stoßen. Die Reihe der Primzahlen entsteht daher durch eine logische Negation, d.h. durch das was sie logisch nicht sind. In vergleichbarer Weise ist die nur virtuell existente Verbindung zwischen Einzeldingen und Universalien zu denken; diese sind was jene Absolut nicht sind. In Kantischem Duktus könnte man sagen, dass die Universalien Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung sind, wobei sie der Erfahrung aber nicht zeitlich vorangehen, sondern zusammen mit dieser in die Welt kommen. Damit erklärt sich z.B. warum alle Versuche eine Spezies positiv zu beschreiben und scharf gegen andere Spezies abzugrenzen zum Scheitern verurteilt sind; die Beschreibung einer Spezies setzt voraus, dass diese schon als solche erkannt ist. Doch genau wie die positive Beschreibung der Reihe der Primzahlen unendliche Komplexität annehmen müsste, ist auch die konstruktivistische Beschreibung einer Spezies ein nicht abschließbares Unterfangen. Umberto Eco kommt in Kant und das Schnabeltier zu einem ähnlichen Ergebnis wenn er glaubt einen kognitiven Typus für z.B. die Stadt Rom oder Bachs Zweite Suite für Violoncello zu haben (d.h. sie zweifelsfrei erkennen zu können), ohne aber deren nuklearen Inhalte angeben zu können. Obwohl er zugibt nicht in der Lage zu sein den nuklearen Inhalt dieser kognitiven Typen zu kommunizieren, bleibt er aber abschließend doch der Meinung, dass in den meisten Fällen (z.B. Mäuse, Stühle, etc.) kognitiver Typus und nuklearer Inhalt zusammenfallen und daher angegeben werden können. Es bleiben jedoch Zweifel ob die Grenze, an der ein Stuhl oder eine Maus gerade noch als Stuhl oder Maus wahrgenommen wird, existiert und angegeben werden kann. Schon Spinoza vermutete, dass die Dinge nicht positiv definierbar sind, sondern sich gegenseitig begrenzen. Dann aber wäre der nukleare Inhalt des kognitiven Typus ‚Schnee‘ in Grönland und Nordafrika nicht identisch.

     

    So wie die charakterisierende Negativregel der Primzahlen sind auch die grundlegenden ‚Erhaltungssätze‘ menschlichen Zusammenlebens positiv benennbar: der jüdisch-christliche Dekalog besteht aus zehn Negationen, von denen die Verbote des Tötens, Stehlens und der Falschaussage die bekanntesten sind. Allgemeingesprochen sind Erhaltungssätze Symmetrien, d.h. Objekteigenschaften, die sich unter beliebigen Bedingungen nicht ändern. Im Euklidischen Raum z.B. ist es den Längen und Winkeln eines Körpers ‚verboten‘ sich unter beliebigen Translationen und Rotationen zu ändern – weshalb Körper unter diesen Transformationen nicht brechen oder sich verformen. Es ist das Verbotene, das sich selbst nicht zeigt und doch die beobachtbaren Dinge hervorbringt. Denn im gleichen Moment, da die Verbote – als Universalien – überschritten werden, verschwinden auch die Dinge, d.h. die Partikularien. Eine Welt in der Töten und Stehlen nicht verboten sind entzieht sich jeder Vorstellungskraft. Die oben genannten Beispiele sind aber selbst keine natürlichen Universalien, denn sie sind zwar Negationen, aber eben doch Negationen eines positiv Gewussten. Das Verbot des Tötens setzt das Wissen um das Töten schon voraus, genau wie die Negativregel zur Entdeckung der Primzahlen, ungeachtet ihrer Negativität, doch eine gewusste arithmetische Definition ist. Anders dagegen die Universalien der Röte, Schwere oder Länge, die begrifflich die Eigenschaft von Dingen rot, schwer oder lang zu sein lediglich substantivieren; wir kennen die jeweiligen Erhaltungssätze nicht. Nun könnte man vermuten, dass die Negativregeln dieser natürlichen Universalien in Vergessenheit geraten, bzw. unwiederbringlich in grammatikalische Struktur übergegangen sind. Dagegen spricht aber, dass mit solchem Vergessen gleichzeitig mit der Negativregel ¬A auch die Regel A verloren wäre. Der logisch negierte Erhaltungssatz kann nicht verschwinden ohne dass die zugeordneten Partikularien mit ihm verschwinden, denn es steht nicht zu erwarten, dass sich die Primzahlen durch Blinken oder eine spezielle Farbe zu erkennen geben könnten. Röte, Schwere, Länge, Raum, Kausation, etc., d.h. die natürlichen Universalien, scheinen daher anderen als logisch-negierten Erhaltungssätzen zu entsprechen.

     

    Eine legitime Theorie kann als Emergenz eines Satzes oder Satzsystems verstanden werden, der bzw. das in der Sprache nicht enthalten ist und dieser gleichzeitig Absolut nicht widerspricht. In genau dieser Absoluten Widerspruchslosigkeit äußert sich der Erhaltungssatz (die Universalie) einer solchen Theorie nicht nur in Bezug auf die Sprache, d.h. in seiner buchstäblichen Harm-Losigkeit, sondern auch durch seine Gleich-Gültigkeit im Rahmen Erfahrung. Der natürliche Erhaltungssatz erhält, indem er aufs schärfste (nämlich inkommensurabel) trennt, und er ist trotz seiner Unwissbarkeit keine esoterische oder obskure Wesenheit, sondern der vernünftige Satz selbst. Er erhält das grammatikalische Subjekt als solches, indem das Verb sein Tun kategorial von ihm trennt und es so mit ihm verbindet. Hier treffen sich Descartes und Leibniz: l‘idee vraie est claire et distincte und das Prädikat ist im Subjekt enthalten. Jeder vernünftige Aussagesatz trägt seine Universalie und seine Partikularien schon in sich, wobei sich die Universalie nicht über ihre Absolute, das Ganze der Sprache betreffende, Widerspruchslosigkeit hinaus beschreiben lässt. Es ist die Aufgabe des Verstandes eine bloße Aristotelische Änderung (es hat sich bewegt!) durch einen Erhaltungssatz zum Stillstand zu bringen. Der Empirismus verzichtet auf diese schweißtreibende und nur sporadisch erfolgreiche Arbeit. Stattdessen beschreibt er was er zu ‚sehen‘ glaubt mit mathematischer Strenge. Es ist somit keine Selbstverständlichkeit oder Trivialität, dass, sagen wir, Aristoteles rennend, liegend, tanzend, fallend, kopfstehend, schlafend, mit und ohne Kleider, in Athen oder Stageira, in Sommer und Winter etc. pp. immer Aristoteles bleibt. Der schlichte Satz Aristoteles schwimmt, ist ein Erhaltungssatz, in dem das Verb a priori die Invarianz Aristoteles durch die Trennung seiner selbst von seinem spezifischen Tun sicherstellt und nur a posteriori (grammatikalisch bzw. logisch) seine Bewegungsform beschreibt. Der Erhaltungssatz bringt die Dinge hervor bzw. erhält sie so, dass ihnen zwanglos alle Attribute von Körpern in kontinuierlichen Graden zwischen Extremen zufallen, z.B. Ausdehnung, Farbe, Form, Gewicht, Härte, el. und therm. Leitfähigkeit, optische Reflektivität, Wärmekapazität, etc. Es zeigt sich wiederum, dass all diese Attribute, sofern sie sich auf makroskopische Dinge beziehen, akkretiv sind, weil sie in Verhältnissen Absoluter Widerspruchslosigkeit und damit Inkommensurabilität stehen. Sie sind die natürlichen Universalien deren Erhaltungssätze wir deshalb nicht explizit kennen können, weil sie (die Universalien) ausschließlich in ihrer gegenseitigen Negation (Orthogonalität) eine Bedeutung haben. Keine Farbe ohne Form, keine Form ohne Ausdehnung, keine Ausdehnung ohne Gewicht und so weiter. Es ist nach meiner Meinung genau diese strenge, quasi-räumliche Systematik, die es Kindern selbst in prekärer Sprachumgebung erlaubt, die Sprache mit Leichtigkeit zu erlernen. Dieses Lernen ist nur marginal ein Auswendiglernen oder Nachmachen. Größtenteils ist es ein mehr oder weniger gezieltes mentales Sprach-Probieren, das durch das Sich-Zeigen bzw. Sich-Nicht-Zeigen der ‚Welt‘ gesteuert wird. In freier Anlehnung an Wittgenstein: um etwas richtig sehen zu können, muss man zunächst richtig darüber sprechen.