Fühlende Vernunft

Es geht darum, Formen des Wir zu gestalten, die ohne aggressive Ausgrenzung nach außen und ohne stereotype Denkzwänge im Inneren auskommen. Dazu gehört vor allem eine Schule der Emotionen.

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    Schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts stellten einige Denker nachdrücklich die Bedeutung der Gefühle heraus. Sie richteten sich damit gegen rationalistische Konzepte der menschlichen Subjektivität, die damals das Feld zu beherrschen begannen – Konzepte, welche das Selbst auf eine neutrale Beobachterinstanz zu reduzieren suchten bzw. es aus seiner emotional engagierten Verwobenheit in die Erfahrungswelt herauslösen wollten. So begründete das sich erneuernde Ideal kühl distanzierter Gefasstheit in allen Dingen – auch im Blick auf die eigenen Affekte – zwar mit durchschlagendem Erfolg die moderne naturwissenschaftlich-naturalistische Betrachtung des Menschen, blieb aber dennoch nie unwidersprochen, von Anfang an nicht.
     
    Stellt man in Anlehnung an Gefühlstheoretiker wie z. B. David Hume den neuzeitlichen Dualismus von Denken und Fühlen sowie die damit verknüpften Bewertungsreflexe in Frage, so wird erkennbar: Denken und Fühlen sind zwei Modi des Weltbezuges, die ineinander verschränkt sind und niemals vollständig zugunsten der einen oder anderen Seite auseinandergerissen werden können. Denkoperationen vollziehen sich zwar mehr oder weniger abgetrennt von der Handlungswirklichkeit, sind aber dennoch stets mit gelebter Erfahrung vollgesogen. Deshalb sind sie niemals ganz frei von emotional wirksamen Wertaufladungen.
     
    Wer sich als gleichermaßen denkendes wie fühlendes Wesen annimmt und im Zuge dessen das Zusammenspiel beider Formen der Welterschließung genauer analysiert, wird zur Akzeptanz zweier Gegebenheiten geführt: Zum einen ist dies die letztlich unüberwindliche Partikularität und Begrenztheit der eigenen Weltsicht und damit verknüpft zum anderen die niemals ganz auflösbare Abgetrenntheit von anderen Menschen. Hieraus ergeben sich wichtige Grundhaltungen der Selbstrelativierung und kommunikativen Aufgeschlossenheit. Man öffnet sich einem prozesshaften und dialogischen Selbstverständnis und mag schließlich sogar zu einer Haltung der Verzeihensbereitschaft gelangen.
     
    Denken ohne Fühlen gibt es nicht, schon allein deswegen nicht, weil es keinen Denkprozess ohne einen leibhaftigen Träger geben kann. Eher ist es schlecht für das Denken, wenn es sich von der fühlenden Seite des Menschseins abwendet und damit im Grunde einen metaphysischen Standpunkt einzunehmen sucht, d. h. wenn es die unausweichliche Verstrickung des menschlichen Geistes in wandelbare kulturelle Normen, Wertsetzungen, Interessen und Wünsche abzuwehren sucht. Im Vollzug einer je individuellen Geschichte ist Emotionalität kein lästiges Beiwerk. Schließlich ist sie der unvermeidlich naturgegebene Ausgangspunkt jeder menschlichen Entwicklung, weil unsere primäre Beziehung zur Welt keineswegs kognitiver Natur ist. Wenn wir später damit beginnen, über uns selbst nachzudenken, hat sich längst eine tiefe emotionale Spur in unser Selbstsein und unsere wertenden Reaktionsmuster eingegraben, und zwar so elementar, dass wir uns auch in der Abstand nehmenden Selbstbetrachtung und Selbstformung niemals ganz von der eigenen „Abrichtungsgeschichte“ abheben können, d. h. von jener kulturell verorteten Biografie, aus der unsere Identität hervorgegangen ist. Wir können uns noch so sehr bemühen, unsere Möglichkeiten sind immer begrenzt. Allerdings sind sie noch weitaus begrenzter, wenn wir uns der Illusion geistiger Neutralität und damit eines problemlosen Selbstbesitzes hingeben.
     
    Übersteigerte Rationalitätsmythen verhindern zudem, dass Menschen das ihnen Zustoßende, das Widerfahrende und nicht frei Gewählte angemessen in ihr Selbstverständnis einbeziehen. Anzuerkennen wäre zudem, wie stark das Erleben von Verletzlichkeit und Angewiesenheit sowie die Sehnsucht nach Zugehörigkeit und Aufgehobensein in uns wirken. Es gilt diese Erfahrungen nicht als Schwächen abschütteln oder delegieren zu wollen, sondern das zutiefst Menschliche darin zu erkennen und anzunehmen. Erst dann ergibt sich m. E. ein realistischer Blick auf uns selbst als soziale Wesen.
     
    Damit rückt auch das Spektrum der Mitgefühle in den Fokus. Hier bezeichnen unzählige Emotionsbegriffe unterschiedliche Phänomene der Bezogenheit: Resonanzfähigkeit, Gefühlsansteckung, Einsfühlung, Miteinander-Fühlen, leibliches Gespür, Takt, Einfühlung, Empathie, Sympathie, Mitleid usw. – all dies sind Varianten der fühlenden Verbindung von Mensch zu Mensch. Das Feld bedarf unbedingt einer Differenzierung. Warum? Weil sich nur so verstehen lässt, dass die sozialen Anlagen des Menschen keineswegs das Gelingen von Gemeinschaft garantieren. Sie sind vielmehr in hohem Maße ambivalent, weil sie zum Guten und zum Schlechten hinleiten können.
     
    Dazu hier nur ein zentraler Gedanke: Die von Hume mit „sympathy“ bezeichnete mitfühlende Naturanlage des Menschen darf keineswegs mit Zuneigung, Sympathie oder gar Liebe gleichgesetzt werden. Vielmehr wird damit zunächst nur auf eine basale Naturähnlichkeit aller Menschen hingewiesen, welche uns unwillkürlich emotional in Beziehung zueinander treten lässt, und zwar derart, dass wir die Gefühlsbotschaften anderer aufnehmen können, auch dann, wenn wir uns selbst in einer völlig konträren Verfassung befinden. Um die Gefühlslage eines anderen nachzuvollziehen, ist weder unbedingt besondere Nähe noch Zuneigung zu der jeweiligen Person erforderlich. Damit ist gesagt: Ohne eine Entscheidung treffen zu dürfen oder etwas daran ändern zu können, leben wir auf andere Lebewesen bezogen und nehmen deren Empfindungen und Reaktionen seismographisch wahr. Über die emotionale Bahn der Mit- und Nachempfindung – anders gesprochen: über den Aufbau gemeinsamer Schaltkreise – wird kulturelle Übertragung möglich. Auf diese Weise erlernen wir die Sprache und soziale Normierungen, somit die Fähigkeiten, uns in der menschlichen Lebenswirklichkeit zu orientieren.
     
    Die Entstehung unverzerrten Mitgefühls ist zwar auf dieses angelegte Resonanzvermögen angewiesen, führt aber weit darüber hinaus. Genau besehen ist Mitgefühl gar keine Emotion, sondern eine geistige Haltung, die erst durch gezielte Kultivierung der Empathie- und Vernunftfähigkeit entstehen kann. Im Mitgefühl entfaltet sich ethische Kraft, weil Einfühlung hier nicht aktiviert wird, um jemanden zu manipulieren oder über den Tisch zu ziehen. Allein das Wohlergehen anderer wird zum zentralen Anliegen des Mitfühlenden. Deshalb braucht gerade das Mitgefühl, wie schon Hume betonte, ein hohes Maß menschlicher Imaginationskraft. Nur indem jemand zu verstehen sucht, worum es einem anderen geht bzw. was dessen Lebensinteressen zuträglich ist, entfaltet fühlende Teilnahme ihre pro-soziale Wirkmacht. Leider verbergen sich heute oft problematische Haltungen hinter dem wohlklingenden Label „Empathie“, und zwar solche, die darauf aus sind, andere emotional intelligent als Mittel für die eigenen Zwecke einzuspannen.
     
    Doch die Differenzstruktur des Mitgefühls impliziert, das immer zugleich auch unbekannte Terrain des mir ähnlichen Anderen aufsuchen zu wollen – dabei jedem vorschnellen Aneignungswunsch widerstehend. Nur indem das Mitgefühl gleichsam situativ übersituativ ausschweift, vermag es die ihm nachgesagte ethische Wirkung zu entfalten und destruktive Gefühlsimpulse einzudämmen. Mitgefühl setzt mithin eine grundlegende Anerkennung des Fremdpsychischen voraus. Ich realisiere, dass der Andere tatsächlich ein Anderer ist, getrennt von mir, so dass ich niemals mit Sicherheit wissen kann, was in ihm vorgeht. Meine Imagination dieser Vorgänge darf nicht in Phantasterei münden, sondern sie ist auf kontinuierliche Überprüfung durch Zuhören, Gespräch und Zusammensein angewiesen.
     
    Anders als Mitleid ist der mitfühlende Impuls also darauf gerichtet, den unmittelbar gegebenen Kontext zu überschreiten und seinen Radius auf Nichtgewusstes, Fremdes und Unbekanntes auszudehnen. Zu diesem Impuls gehört eine distanzierte Haltung, die – geleitet von einer Kraft allgemeinmenschlicher Verbundenheit – Differenzen gelten lässt und in ihrer Beschaffenheit genauer erkundet. Emotionale Reflexe zurückstellend wird die Getrenntheit von anderen zunächst einmal akzeptiert, doch letztlich mit dem Ziel, Isolation überwinden zu können.
     
    Es gibt indes Faktoren, welche die Ausbildung universellen Mitgefühls behindern oder gar unterminieren können. Blockierend wirken z. B. erlernte Normen der Wertschätzung und moralischen Beurteilung. Man nimmt leichter Anteil am Leid von Person, die nach eigenem Ermessen unverdient ins Unglück geraten sind. Auch spielt eine Rolle, ob jemand als angenehm und sympathisch erlebt wird bzw. ob er Werte, Interessen oder auch nur Vorlieben mit uns teilt. Mitgefühl ist also keineswegs immun gegen Beschränkungen aller möglichen Art. Deshalb kommt hier der vernunftgelenkten Analyse, die sich der Realitätsangemessenheit des Fühlens widmet, eine besonders hohe Bedeutung und Funktion zu. Leugnung von Tatsachen, platte Lügen, unredliche Pauschalisierungen oder auch eine erbitterte Identitätspolitik sind mit Mitgefühl nicht vereinbar.
     
    Vielmehr setzt es voraus, sehr genau zwischen sich selbst und einem anderen unterscheiden zu können. Will man anderen wirklich gerecht werden und ermitteln, was der Verbesserung ihrer Lage dient, so wird man sich viele Gedanken machen müssen, in besonderer Weise dann, wenn der Betreffende einen anderen gesellschaftlichen oder kulturellen Hintergrund mitbringt. In diesen Fällen wäre es heikel, voreilig und ungeprüft eine Identifizierung der (Gefühls)Welten vorzunehmen. Die Versuchung ist groß, weil man ja häufig glaubt, aus eigenem Erleben genau zu wissen, was der andere gerade durchmacht.
     
    Da die Reichweite unseres natürlichen Mitgefühls – wie viele Untersuchungen zeigen – klein ist, bedarf es gezielter Bildungsmaßnahmen, um mehr Menschlichkeit zu entfalten. Angesichts einer globalisierten Welt und multikultureller Herausforderungen ist emotionale Weiterbildung das erste Gebot der Stunde. Unleugbar ist: Gemeinschaft ist ein tief in der menschlichen Natur verankertes Grundbedürfnis. Wir sind emotional gewissermaßen darauf gepolt. Allerdings birgt unser Gemeinschaftstrieb große Gefahren in sich: Gruppenbezogene Übernormierung führt oftmals zu zwischenmenschlicher Härte, nicht selten begleitet von fremdenfeindlichen oder auch sexistischen Denkmustern. Abgrenzung gegen „böswillige“ andere ist ein probates Mittel, um ohne viel Aufwand ein Treibhaus elitärer Wirgefühle zu stiften. Hochtoxische Vorurteile und Gewaltbereitschaft lassen sich besonders leicht innerhalb homogener Gruppen mobilisieren, welche auch im Inneren wenig Raum für individuellen Eigensinn gewähren. Geschichtliche Tatsachen und sozialpsychologische Experimente belegen gleichermaßen: Es ist kein Kunststück, Menschen zu Feindseligkeit gegenüber Fremdgruppen zu animieren. Wir alle sind willige Opfer einer Verfeindungsstruktur im Kleinen. Sind wir nicht wachsam, so widerfährt uns Vergleichbares auch im Großen, dann nämlich, wenn wir anfangen, Teile der Bevölkerung bedenkenlos aus der Kategorie „Normalmensch“ auszuklammern und zu diffamieren. Deshalb müssen wir heute alles daransetzen, neue Gruppenmodelle zu entwickeln und diese in alle gesellschaftlichen Kontexte, vorrangig aber in den Bildungsbereich, einzubringen. Dem Durchleben gemeinsamer Situationen kommt dabei ein hoher Stellenwert zu. Zu vermitteln ist, dass Gemeinschaft erst dann wirklich gelingen kann, wenn sie innere Vielfalt erlaubt und die individuellen Qualitäten einzelner Gruppenmitglieder zu stärken sucht. Es geht darum, Formen des Wir zu gestalten, die ohne aggressive Ausgrenzung nach außen und ohne stereotype Denkzwänge im Inneren auskommen. Dazu gehört vor allem eine Schule der Emotionen
     
    Da Mitgefühl niemals ohne gründliches Nachdenken auskommen kann, ist es eine Emotion zweiten Grades. Es ist eine besondere Haltung intensiver Bezogenheit, die die einmalige Eigenart, ja das Geheimnis des Individuums respektiert, doch immer eingedenk der Tatsache, dass Menschen Beziehungswesen sind und für ihre individuelle Entfaltung unbedingt den zwischenmenschlichen Austausch benötigen. Unverrückbar bleibt: Das Mitsein geht dem Individuum voraus. Der Individualismus überwindet keineswegs den Vorrang der Beziehung oder „das eingeborene Du“, wie Buber es nennt. Der Individualismus stellt uns lediglich vor veränderte Herausforderungen im Blick auf die Gestaltung des Gemeinschaftlichen.