Erotisches Philosophieren

O Freunde, es gibt keine Freunde

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    Trotz aller Einwände, die Derrida gegen solch ein Unternehmen vorgebracht hat (vgl. Derrida 2002, 17ff.), wende ich mich mit dem obigen Zitat an Sie, die Sie diese Zeilen in diesem Augenblick lesen.

    Philosophiegeschichtlich beziehe ich in Gestalt meines Eingangszitats Position im Streit über die richtige Überlieferung des Ausspruchs o(i) philoi oudeis philos, den Aristoteles – nach dem Bericht des Diogenes Laertius – „immer wieder gesagt“ habe (Diogenes Laertius 1921, 216): ob der Ausspruch mit einem o oder mit einem oi und infolgedessen mit der Anrede – o philoi bzw. O Freunde – oder mit dem Dativ – oi philoi bzw. dem Freunde – beginne. Mit meinem Eingangszitat votiere ich für die erstere Option. Ich trete dafür ein, dass Aristoteles dem griechischen Sprichwort oi philoi oudies philos – zu deutsch: Keinen Freund hat, wer viele Freunde hat oder Viele Freunde, keine Freunde (vgl. ebd.; EE 1245b 21) – mit seinem Ausspruch eine dialogische Wendung gibt und o philoi spricht. Auf diese Weise wird es Aristoteles möglich, nicht das zum Sprichwort geronnene Alltagswissen über Freundschaft zu tradieren, sondern vielmehr die theoretisch-dialogische Ausübung philosophischer Freundschaft fortzuführen, die auf Platons Symposion zurückgeht.

    Im Symposion greifen die theoretische Erkenntnis und die dialogische Betätigung von philosophischer Freundschaft ineinander. Platon trägt darin – durch die Münder des Sokrates bzw. der Diotima – nicht nur eine Theorie über die Liebe im Allgemeinen und die philosophische Freundschaft im Besonderen vor: dass sich das erotische Begehren am Schönen bzw. Guten entzünde und zum Zeugen im Schönen bzw. Guten motiviere (vgl. Symp. 204d – 207a); und dass die höchste Form der erotischen Betätigung in der Freundschaft zwischen philosophischen Lehrern und Schülern ausgeübt werde, da darin das wahrhaft Gute gezeugt und hervorgebracht werde (vgl. ebd., 210e – 212a). Darüber hinaus bemüht er sich mit seiner Erzählung von den Dialogen, die seine Protagonisten führen, darum, die Funktion vorzustellen, die philosophische Freundschaft für das theoretische Erkennen ausübt: ein solches Miteinander zu formen, in dem philosophische Lehrer ihren Schülern die Möglichkeit eröffnen, sich erotisch zu solchen Menschen zu formen, für die die philosophische Erkenntnis allererst zugänglich wird. Auf dialogischer Ebene wendet sich Platon schließlich seinerseits in Gestalt des ersten Satzes seines Textes durch den Mund seines alter ego Apollodoros an seine Leser (vgl. ebd., 172a) – um in letzteren das philosophische Begehren zu entzünden, in die wahre Erkenntnis der Liebe eingeführt zu werden, und sie auf diese Weise erotisch zu philosophischen Lesern zu bilden, die das theoretische Wissen über die Liebe auffassen können, das er ihnen in seinem Text vermitteln möchte.

    Vor dem Hintergrund des Symposion stellt sich mir der eingangs zitierte Ausspruch als ein spekulativer Satz dar: als ein Satz, mit dem sich Aristoteles darum bemüht, das von seinem Lehrer Platon praktizierte, erotische Philosophieren erneuernd fortzuführen – indem er in diesem Satz die theoretische Erkenntnis und die dialogische Praxis philosophischer Freundschaft verschränkt. In Gestalt seiner Anrede o philoi bzw. O Freunde ist es Aristoteles offensichtlich darum zu tun, sein Gegenüber in ein Gespräch, und zwar genauer: in ein Gespräch unter Freunden hineinzuziehen. In seinem zweiten Satzteil – oudeis philos, zu deutsch: keine Freunde bzw. es gibt keine Freunde – weist er im Sinne seiner Ethiken auf das spezifische Dasein von Freunden hin: dass Freunde füreinander nicht wirklich sind, indem sie existieren, sondern indem sie miteinander die Lebensakte teilen, die ihnen Freude vermitteln (vgl. NE 1157b 5ff.; EE 1245b 3ff.). Dabei gilt für Aristoteles wie für Platon das „Teilen von Worten und Gedanken“ (NE 1170b 12) als die höchste Gestalt des Tätig-seins, das Freunde miteinander ausüben. Im Unterschied zu Platon versteht er die Form philosophische Freundschaft jedoch nicht als ein Lehrer-Schüler-Verhältnis, sondern als ein Verhältnis zwischen solchen, die „gleich an Tugend (kat’areten)“ (NE 1156b 7) des Charakters und des Verstandes sind. Im „Teilen von Worten und Gedanken“ (NE 1170b 12) besteht für ihn deswegen die höchste Form der Freundschaft, weil es die Gestalt geteilten Tätig-seins ausmacht, die die höchste Form der Freude vermittelt und es den Freunden zugleich ermöglicht, einander in der Vervollkommnung ihrer Tugenden beizustehen (vgl. NE 1169b 30 – 1170b 20). Mit seinem dialogisch-theoretisch angelegten Ausspruch O Freunde, es gibt keine Freunde bemüht sich Aristoteles folglich darum, sein Gegenüber in ein Gespräch unter philosophischen Freunden über Freundschaft hineinzuziehen. Dabei dürfen wir, die wir seinen Ausspruch heute – vermittelt durch die Überlieferung des Diogenes‘ – lesen, unsererseits als philosophische Freunde angesprochen erfahren. Aristoteles tritt uns darin als „Gleicher“ entgegen, dem es wie uns um das „Teilen von Worten und Gedanken“ (NE 1170b 12) zu tun ist, das ihm wie uns Freude macht und in dessen Ausübung wir – wie Aristoteles meint – unser Leben zugleich im Sinne unserer menschlichen Bestimmung zur Vernunft ausüben und vervollkommnen (vgl. ebd.).

    Wenn ich den Aristotelischen Ausspruch O Freunde, es gibt keine Freunde meinerseits an den Anfang meines Textes stelle, dann bringe ich damit zunächst zum Ausdruck, dass ich mich von der Aristotelischen – das Platonische Reden erneuernden – Anrede habe ansprechen und in ein Gespräch unter philosophischen Freunden über philosophische Freundschaft hineinziehen lassen. Zugleich bemühe ich mich darin um eine Fortsetzung des erotischen Philosophierens unter den Bedingungen der Moderne. Ich ergreife in der zeitgenössischen Diskussion über eine erotische Erneuerung des Philosophierens das Wort und stehe für eine solche Gestalt des erotischen Philosophierens ein, die – im Unterschied etwa zu Derridas „ursprünglichem Kampf“ (Derrida 2002, 483) – die erotischen Grundlagen philosophischer Auseinandersetzung in der Tradition der Alten in philosophischer Freundschaft als einer spezifischen Gestalt von Liebe finden und ausüben will. In meinem theoretischen Verständnis der individuellen Bestimmung zum Philosophieren, der Form der philosophischen Freundschaft und ihrer Funktion für das philosophische Erkennen gehe ich allerdings über die Aristotelische Auffassung hinaus. In formaler Hinsicht verstehe ich das „Teilen von Worten und Gedanken“ (NE 1170b 12) im Unterschied zu Aristoteles nicht als Tätigkeit, die die Freunde zu „eine[r] Seele“ verschmilzt, „die in zwei Leibern wohnt“ (Diogenes Laertius 1921, 215), sondern als eine dialogische Tätigkeit (vgl. insb. Krebs 2015, 170ff.): als das aneinander gerichtete Sprechen, einander Erhören und Antworten, das philosophische Freunde in ihrer individuellen Besonderheit miteinander ausüben. Dialoge formen meiner Ansicht nach Akte philosophischer Freundschaft, indem die Gesprächspartner in ihrer Ausübung füreinander als philosophierende Menschen wirklich werden, die sich in inmitten ihres individuellen Lebens von philosophischen Fragen herausgefordert und in deren Besprechen unter Freunden hineingezogen erfahren, und einander in ihrem philosophischen Gefordert-sein bejahen. Für die philosophische Erkenntnis übt das philosophische Gespräch unter Freunden in der Moderne nun die Funktion aus, zwischen ihnen den Bezug auf Wahrheit zu etablieren. Unter den Bedingungen der modernen Reflexion auf die Endlichkeit der Vernunft hat sich nämlich gezeigt, dass dem monologischen Denken ein archimedischer Standpunkt der Wahrheitserkenntnis entzogen ist, von dem aus sich Wissen zur Beantwortung der philosophischen Fragen erreichen ließe. Indem philosophische Freunde das Herausgefordert-werden durch konkrete, philosophische Fragen teilen und die theoretische Auseinandersetzungen ihrer Freunde mit eben diesen Fragen geistig mitvollziehen, können sie einander in ihren Antworten die blinden Flecken ihrer Überlegungen vor Augen führen und es einander auf diese Weise wechselseitig ermöglichen, sich ihren Verstrickungen in ihr individuelles Geworden-sein zu entwinden. In ihrer geteilten Liebe zu der ihnen aufgegebenen, philosophischen Erkenntnis, können sie sich freilich nicht damit zufrieden geben, in ihren Gesprächen ihre partikularen Meinungen durch ihre gemeinschaftlich gehegten Meinungen zu ersetzen. Sie streben ja nach theoretischer Erkenntnis als Antwort auf die philosophischen Fragen, die sich ihnen stellen. In ihren Einzelgesprächen etablieren die philosophischen Freunde allerdings die – für Erkenntnis geforderte – Relation auf Wahrheit, indem sie ihr gegenwärtiges Miteinander-Sprechen für künftige Beiträge von Seiten Dritter offenhalten: für künftige Beiträge, in deren Gestalt sich aktuell noch fremde, kommende Freunde zu Wort melden und ihnen darin Distanz noch von ihren gegenwärtig geteilten Verstellungen eröffnen.

    Schließlich spreche ich mit meinem Ausgangszitat nicht nur in die zeitgenössische Diskussion über eine erotische Erneuerung des Philosophierens hinein, sondern wende mich zugleich auch an Sie. Ich spreche Sie darin als die besondere Person an, die Sie sind und als die Sie diese Zeilen in diesem Moment lesen. Ihr gegenwärtiges Lesen verstehe ich als gelebten Ausdruck sowohl Ihres erotischen Angesprochen-werdens von der Frage nach dem erotischen Philosophieren, mit der ich meinen Text überschrieben habe, als auch Ihres Hineingezogen-werdens in das – textuell vermittelte – Gespräch mit mir über eben diese Frage. In Gestalt meines Ausgangszitats bitte ich Sie um Ihre philosophische Freundschaft. Ich bitte Sie zunächst um eine freundschaftliche Ausübung Ihrer Lektüre: um Ihr philosophisches Mitdurchdenken meiner Überlegungen, um letztere in ihrem Anspruch zu überprüfen, theoretische Erkenntnis über philosophische Freundschaft zu erreichen. Darüber hinaus bitte ich Sie um Ihre Antworten, um unser – textuell vermitteltes – philosophisches Gespräch fortzuschreiben und mir in Gestalt unseres geteilten Gesprächs bzw. unserer geteilten Email- oder Blogfreundschaft die Möglichkeit zu verschaffen, mich den Verstrickungen in mein partikulares Geworden-sein zu entwinden, die mein Verständnis und meinen praktischen Mitvollzug philosophischer Freundschaft aktuell noch beschränken. Und schließlich spreche ich in Ihrer Gestalt auch unsere künftigen, philosophischen Gesprächspartner an – um Sie darum zu bitten, unser Gespräch für die kommenden Gespräche zwischen allen philosophischen Freunden offenzuhalten, in deren Horizont wir meines Erachtens allein darauf hoffen können, erotisch zu den Menschen erneuert zu werden, die philosophisches Wissen als Antworten auf die konkreten philosophischen Fragen erreichen können, von denen wir uns inmitten unseres Lebens herausgefordert erfahren.


    Literatur

    Aristoteles: Eudemische Ethik (EE), hg. von E. Grumbach, Berlin 1962.

    Ders.: Nikomachische Ethik (NE), hg. von U. Wolf, Hamburg 2006.

    Jacques Derrida: Politik der Freundschaft, Frankfurt a. Main 2000.

    Diogenes Laertius: Leben und Meinungen berühmter Philosophen, übers. von O. Apelt, Leipzig 1921.

    Platon: Symposion (Symp.), in: ders.: Werke, Bd. 3, hg. von G. Eigler, Darmstadt 1981, 209-393.

    Angelika Krebs: Zwischen Ich und Du. Eine dialogische Philosophie der Liebe, Berlin 2015.