Ausschnitte von Dirk Lanzeraths Beitrag

Gesundheit in Medizin und Gesellschaft

Während in medizinischen Handbüchern und Lexika viele Krankheiten im Detail beschrieben sind, sucht man häufig vergeblich nach den Stichwörtern "Gesundheit" und "Krankheit". Die Begriffe sind offenbar unscharf, schwer abzugrenzen, und zu jenen Grundbegriffen gehörig, von denen der Philosoph I. Kant sagt, dass sie zwar erörterbar oder beschreibbar, aber kaum definierbar seien.

·

    Einführung

    Während in medizinischen Handbüchern und Lexika viele Krankheiten im Detail beschrieben sind, sucht man häufig vergeblich nach den Stichwörtern "Gesundheit" und "Krankheit".[1] Die Begriffe sind offenbar unscharf, schwer abzugrenzen, und zu jenen Grundbegriffen gehörig, von denen der Philosoph I. Kant sagt, dass sie zwar erörterbar oder beschreibbar, aber kaum definierbar seien.[2] "Was gesund und was krank im allgemeinen bedeutet, darüber zerbricht sich der Mediziner am wenigsten den Kopf"[3], bemerkt der Arzt und Philosoph K. Jaspers. J. Gottschick geht sogar soweit zu sagen, die Heilkunde benötige gar keinen "allgemeinen Krankheitsbegriff, weil sie sich nur mit Einzelkrankheiten zu befassen hat und einer genauen Grenzziehung zwischen 'krank' und 'gesund'"[4] daher gar nicht bedürfe. Dennoch werden die Begriffe "Gesundheit" und "Krankheit" von Ärzten, Patienten und all denen, die mit dem Gesundheitswesen zu tun haben, nicht nur verwendet, sondern offensichtlich für unentbehrlich gehalten.

    Ohne Zweifel ist die Frage nach Gesundheit und Krankheit so alt wie die Menschheit selbst. Doch ebenso wenig kann daran gezweifelt werden, dass sie mit der Entstehung der wissenschaftlichen Medizin eine neue Dimension angenommen hat, denn erst jetzt wird insbesondere der Krankheitsbegriff zu einem zentralen Leitbegriff im Konstitutionsgefüge der Medizin. Zugleich erhält er eine medizinethische Funktion, ist er es doch, der - aus der Bedürftigkeit des Kranken stammend - das Handeln des Arztes lenkt. Dabei ist Krankheit ein wenig geklärter Begriff, der zudem in seiner Leitfunktion innerhalb der zunehmend von den Naturwissenschaften beeinflussten Medizin immer mehr durch die an der Lebensqualität orientierte medizintechnische Machbarkeit bestimmt zu werden droht. Wo dieser Anspruch nicht von der Medizin selbst verfolgt wird, wird er von Patientenseite an die Medizin oder an eine an ihre Stelle getretene "Anthropotechnik" herangetragen.

    Im Folgenden soll argumentiert werden, dass "Krankheit" nicht darin aufgeht, eine biologische Dysfunktion zu sein und der Begriff "Gesundheit" sich nicht darin erschöpft, ein vollkommenes organismisches Funktionieren zu beschreiben. Vielmehr will der vorliegende Beitrag Gesundheits- und Krankheitsbegriff untersuchen als (1) Grundzustände menschlichen Daseins praktischer Natur, als (2) relationale Begriffe im soziokulturellen Gefüge sowie als (3) ins Wanken geratene Normen in Medizin und ärztlichem Handeln.

    Diese Herangehensweise ist mit den Thesen verbunden, dass wir

    • einerseits über den Krankheitsbegriff "Gesundheit" als ein fundamentales individuelles Gut verstehen und zu den Elementar- oder Primärgütern zählen, die wir bewahren oder wiederherstellen wollen und als soziales Gut zum Gegenstand staatlicher Für- und Vorsorge machen;
    • sowie andererseits, dass wir angeregt durch Bio- und Medizintechniken, verführt durch Utopien menschlicher Vervollkommnung eine Art zweite Gesundheit erstreben indem wir unsere natürliche Natur zu überwinden trachten.
    1. "Krankheit" und "Gesundheit" als Weisen kontingenter menschlicher Existenz

    Krankheit und Gesundheit bezeichnen grundsätzliche Zustände unseres Menschseins, denen man sich von verschiedenen Seiten nähern muss, um Sie zu begreifen. Geht man davon aus, dass mit diesem Begriff Zustände beschrieben werden, die die "Natur" des Menschen betreffen, dann stellt sich die Frage, ob dieser Rekurs auf die menschliche Natur rein theoretisch-naturwissenschaftlich zu verstehen ist oder ob sich bereits im Naturbezug evaluativ-praktische Absichten erkennen lassen.


    • [1] Zum historischen Wandel des Begriffs (vgl.): D. von Engelhardt, Health and disease: I. History of the concepts., 2004. In: Post, S.G. (ed.), Encyclopedia of Bioethics. 3rd (ed.) New York 2004: 1057-1065; Histoire du concept de la maladie (dossier), in: Revue du praticien 2001 (51)18 spécial, 1975-2048; E. Berghoff, Entwicklungsgeschichte des Krankheitsbegriffes (Wiener Beiträge zur Geschichte der Medizin 1), 2. Auflage, Wien 1947; P. Diepgen (et al.), Der Krankheitsbegriff, seine Geschichte und Problematik. In: F. Büchner et al. (Hrsg.), Handbuch der Allgemeinen Pathologie, Berlin et al. 1969, 1-50; F. Hartmann, Krankheitsgeschichte und Krankengeschichte. Naturhistorische und personale Krankheitsauffassung. In: Marburger Sitzungsberichte 87 (Heft 2) 1966, 17-32.
    • [2] "Nicht alle Begriffe können also, sie dürfen aber auch nicht alle definiert werden. Es gibt Annäherungen zur Definition gewisser Begriffe; dieses sind teils Erörterungen (expositiones), teils Beschreibungen (descriptiones)"
(I. Kant Logik, A 220).
    • [3] K. Jaspers, Allgemeine Psychopathologie, 5. Auflage, Wien 1965, 652.
    • [4] J. Gottschick, Der medizinische und der juristische (Gesundheits- und) Krankheitsbegriff. 1963. In: K.E. Rothschuh, Was ist Krankheit? Erscheinung, Erklärung, Sinngebung (Wege der Forschung CCCLXII), Darmstadt 1975, 341-379, 355 (Wiederabdruck aus: Ärztliche Mitteilungen 60 (1963), 1246-1252, 1303-1308).