„Der Mensch wird nur unter Menschen ein Mensch“

Die Aussage, dass der Mensch nur unter Menschen ein Mensch wird, ist in einem gewissen Sinn trivial: Der Mensch, so wie er auf die Welt kommt, ist ohne andere Menschen nicht überlebensfähig.

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    Er ist physisch und psychisch darauf angewiesen, dass er von anderen Menschen unterstützt wird und seine Kenntnisse und Fertigkeiten erwirbt er zum grossen Teil von anderen Menschen.

    Mit der Behauptung, der Mensch werde nur unter Menschen ein Mensch, kann aber auch noch etwas Grundsätzlicheres gemeint sein: Der Mensch kann das, was ihn als Menschen wesentlich ausmacht, überhaupt nur unter der Voraussetzung werden, dass es auch andere Menschen gibt. In der Philosophiegeschichte ist die Behauptung in diesem Sinn nicht besonders prominent. Seit Beginn der Neuzeit besteht sogar die Tendenz, die jeweils eigene subjektive Perspektive als den archimedischen Punkt zu betrachten, von dem aus der Rest der Welt erklärt werden kann und muss – man denke nur an Descartes’ „cogito, ergo sum“. Die anderen Menschen oder Subjekte werden, wenn überhaupt, nur am Rand thematisiert.

    Johann Gottlieb Fichte (1762-1814) gehört zwar ebenfalls zu den „Subjektphilosophen“ in der Tradition Descartes’, stellt unter diesen aber eine Ausnahme dar. Denn neben dem subjektivistischen Standpunkt findet man bei Fichte auch ein ausführliches Argument für die Behauptung, dass der Mensch nur unter Menschen ein Mensch werden kann. Und zwar begründet er sie in dem erwähnten grundsätzlichen Sinn, dass der Mensch überhaupt nur ein Subjekt sein kann, wenn es auch andere Subjekte gibt.

    Das Argument, das Fichte ausführlich in seiner Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796/97) entwickelt, kann kurz und frei folgendermassen wiedergegeben werden: Als selbstbewusste und selbstbestimmte Subjekte oder Personen können wir uns nur verstehen, wenn eine Reihe von Voraussetzungen erfüllt sind. Dazu gehört, dass wir Überzeugungen und Absichten haben und diese uns selbst zuschreiben können. Letzteres wiederum setzt voraus, dass wir Überzeugungen und Absichten überdenken, sie mit anderen Überzeugungen und Absichten vergleichen und die Gründe, die dafür oder dagegen sprechen, abwägen können.

    Auf den ersten Blick scheint dies eine rein subjektive Angelegenheit zu sein, da es ja nur um unsere eigenen Überzeugungen und Absichten geht. Fichte macht aber darauf aufmerksam, dass wir die Gründe für unsere Überzeugungen und Absichten nicht einfach spontan überdenken, sondern nur dann, wenn es einen bestimmten Anlass oder Grund dafür gibt, unsere Überzeugungen und Absichten in Frage zu stellen. Weil dies nicht spontan geschieht, kann der Grund nicht im Subjekt selbst liegen und muss deshalb von „aussen“ gegeben sein.

    Nun gibt es verschiedenartige äussere Gründe, die uns veranlassen können, unsere Überzeugungen und Absichten in Frage zu stellen. So kann sich etwa herausstellen, dass sich die Dinge anders verhalten, als wir geglaubt haben, oder wir können durch handgreifliche Hindernisse an der Ausführung unserer Absichten gehindert werden. Gründe dieser Art werden uns gewissermassen aufgezwungen, so dass es uns nicht freisteht, sie anzunehmen oder abzulehnen. Anders verhält es sich nur dann, so Fichte, wenn uns Gründe durch andere Subjekte mitgeteilt werden. Werden uns Gründe durch andere Subjekte mitgeteilt, stellt dies eine zwanglose Aufforderung dar, die mitgeteilten Gründe in unsere eigenen abwägenden Überlegungen miteinzubeziehen. Es bleibt uns dabei freigestellt, unsere Überzeugungen und Absichten unter Berücksichtigung dieser Gründe zu modifizieren. Um Subjekte sein zu können – so lautet das Resultat –, müssen wir von anderen Subjekten dazu aufgefordert werden, deren Überzeugungen und Absichten anzuerkennen, indem wir diese als Gründe in unsere abwägenden Überlegungen miteinbeziehen.

    Wenn Fichte damit Recht hat, sind jene Voraussetzungen, unter denen wir uns als Personen verstehen können, nur dann erfüllt, wenn wir in einem wechselseitigen Verhältnis mit anderen Personen stehen: Wir müssen einerseits andere Personen als uns gleichwertige Subjekte anerkennen, indem wir deren Überzeugungen und Absichten als Gründe anerkennen. Und wir müssen andererseits von anderen Personen als gleichwertige Subjekte anerkannt werden, indem diese Personen uns ihre eigenen Überzeugungen und Absichten als Gründe mitteilen. Eine Person zu sein, bedeutet demnach, andere als Personen anzuerkennen und von anderen als Person anerkannt zu werden.

    Um Personen sein zu können, sind wir also darauf angewiesen, dass es andere Personen gibt. Wir hängen in unserer Existenz als Personen in einem grundsätzlichen Sinn voneinander ab: Wir können nur dadurch Personen werden, dass wir uns gegenseitig als Personen anerkennen. Bei dieser wechselseitigen Anerkennung handelt es sich nicht um irgendein theoretisches Konstrukt, ganz im Gegenteil. Sie geschieht in unserem normalen alltäglichen Umgang miteinander, wenn wir unsere Überzeugungen und Absichten untereinander austauschen, wenn wir unser Handeln miteinander koordinieren und wenn wir gemeinsam Interessenskonflikte bewältigen.