„Schau mir in die Augen, Kleines!“

Zweifellos ist das Sich-Anblicken ein zentrales Element in unserem Zusammenleben mit anderen Menschen. Dies kann die unterschiedlichsten Ausprägungen annehmen.

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    Ein Automobil kämpft sich durch den strömenden Regen. Die Stimmung ist trist, gedrückt. Die Insassen des Autos steigen aus, Reisedokumente werden vorbereitet. Flughafen.

    Ilsa ist sichtlich aufgeregt. Sie versteht nicht. Denn: Nicht Rick, sondern Victor wird mit ihr in Kürze ins Flugzeug steigen, um sicher davon zu kommen. Er, Rick, solle an sie beide denken, hatte sie ihm gesagt. Das tue er nun, sagt Rick. Er bleibt, sie geht. Sie muss gehen. Sie kann nicht an dem teilhaben, was er hier tun muss. Sie senkt ihren Blick, verdrückt sich eine Träne, er hebt ihr Kinn mit seiner linken Hand wieder ein wenig an und sagt: „Schau mir in die Augen, Kleines!“ (Original: „Here´s looking at you, kid!“).
    Dies ist eines der berühmtesten Zitate, in denen das „Sich-Anblicken“ thematisiert wird. Es stammt aus dem Film Casablanca, in dessen Abschlussszene am Flughafen eindrücklich ein bedeutungsschwangerer Blick zwischen Rick (gespielt von Humphrey Bogart) und Ilsa (gespielt von Ingrid Bergman) gezeigt wird.

    Zweifellos ist das Sich-Anblicken ein zentrales Element in unserem Zusammenleben mit anderen Menschen. Dies kann die unterschiedlichsten Ausprägungen annehmen.

    „Jemanden nicht in die Augen sehen können“ bedeutet beispielsweise, miteinander nicht im Reinen zu stehen, vielleicht ein schlechtes Gewissen gegenüber dem Anderen zu haben. „Jemandem zu tief in die Augen gesehen zu haben“ heisst wiederum, sich in jemanden verbliebt zu haben. Oder „jemanden keines Blickes würdigen“ meint, jemanden zu ignorieren. Aber worin unterscheiden sich der ungeduldige Blick auf die Uhr oder der sehnsüchtige Blick aus dem Fenster von ebensolchen Blicken auf ein menschliches Gegenüber?

     

    Im Denken des französischen Philosophen Jean-Paul Sartres nimmt der Blick eine besondere Stellung ein. Stellen wir uns vor, dass wir in einem öffentlichen Park sitzen. Vor uns sehen wir einen Rasen, an dessen Rand Stühle stehen. Jemand geht an den Stühlen vorbei. Sartre fragt sich nun: „Ich sehe diesen Menschen, ich erfasse ihn als Objekt, gleichzeitig auch als Menschen. Was bedeutet das?“[1] Was unterscheidet nun das Anblicken der Objekte Rasen, Uhr oder Stuhl und dem Erblicken des „Menschenobjektes“? Der Unterschied liegt in meiner ständigen Möglichkeit, ebenfalls vom Anderen gesehen, also angeblickt, zu werden. Sartre bezeichnet das Verhältnis namens „Mensch“ als eine Beziehung, die er „Vom-Anderen-gesehen-werden“ nennt. Wenn ein Blick auf mich gerichtet ist, wird eine empfindungsfähige Gestalt sichtbar: Der Andere, ein Mensch.

    Sartre unterscheidet zwischen dem Blick und dem Auge des Anderen. Das Auge ist Objekt und Organ, es ist der (materielle) Träger des Blickes. Der Blick hingegen ist Ausdruck und Manifestation des mir Fremden, des Anderen. Doch was bedeutet es für mich, vom Anderen erblickt zu werden? Worin liegt da die existentielle Erfahrung? Ich erlange ein Bewusstsein davon, angeblickt zu werden. Insofern ist der Blick des Anderen für Sartre ein Verweis auf mich selbst. Der fremde Blick offenbart mir demnach die „radikale, ontologische Getrenntheit zwischen mir und dem Anderen.“[2] Was bedeutet der Verweis auf mich selbst?

    Der Blick des Anderen trifft mich, denn in diesem Blick wird mir die Gegenwart des anderen Bewusstseins klar und somit auch mein eigenes Sein-für-Andere. Sartre meint also, dass mein Verhältnis zum Anderen sich vor allem durch die Möglichkeit des vom Anderen Angeblicktwerdens bildet. Der fremde Blick bestimmt mein Sein in einer gewissen Weise mit. Der andere Mensch wird wichtig, um meine eigene Identität zu begründen.

    Dass der Blick oder der Blickkontakt nicht nur bei Sartre, sondern auch von Naturwissenschaftlern als Forschungsgegenstand herhalten darf, zeigt folgendes Beispiel, das vor kurzer Zeit publiziert wurde. Ganz anders als bei Sartre, bei dem sich die Erfahrung des fremden Blickes als radikale Getrenntheit zum Anderen herausstellt, versuchen Psychologen eine Methode herauszufinden, wie man durch den Blick Fremde zu Liebenden machen kann. Der Artikel „Deep eye contact, Baby!“ und das dazugehörige Video stellen einen Feldversuch vor, in dem sich zwölf Frauen und Männer vier Minuten lang anschauen mussten. Genügen diese vier Minuten, um aus Fremden Liebende zu machen?

    Dass der Blick etwas Existentielles, Berührendes und Bedeutsames in unserem Leben mit anderen Menschen darstellen kann, ist kaum abzustreiten. Dennoch: Es scheint ein wenig übertrieben, ihn als blosse Methode zur Verkupplung von potentiellen Liebespaaren etablieren zu wollen, wenn er doch von so viel grundsätzlicherer Bedeutung ist. Aber ist der Blick wirklich nur Ausdruck davon, dass wir von anderen Menschen unterschieden, ja gar getrennt sind, wie dies Sartre denkt? Im Blickkontakt offenbart sich ebenso eine Verbundenheit zum Menschen gegenüber. Eine tiefe Verbundenheit drückt der Blick zwischen Rick und Ilsa am Flughafen kurz vor ihrer Trennung aus. Indem wir einander in die Augen blicken, würdigen wir uns und drücken unsere gegenseitige Wertschätzung aus. Wir anerkennen das Gegenüber als Menschen. Dies verleiht dem Band zwischen mir und dem Anderen angemessenen Ausdruck. Deswegen ist das lebensalltägliche Sich-Anblicken auch ein philosophisch spannendes Thema, über das wir mit gebührendem existentiellem Ernst nachdenken sollen.

     


    [1] Sartre, Jean-Paul: Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Rowohlt Verlag, 12. Aufl., 2006, S. 339.

    [2] Wojcieszuk, Magdalena Anna, „Der Mensch wird am DU zum ICH“. Eine Auseinandersetzung mit der Dialogphilosophie des 20. Jahrhunderts, Centaurus Verlag, 2010, S. 312.