Menschenwürde und ihre Negation

Menschenwürde stellt gleichzeitig einen Anspruch und eine Aufgabe dar, die den einzelnen Menschen in einer wechselseitigen Beziehung zu allen Menschen bzw. alle anderen Menschen gegenüber ihm zur Verantwortung zieht.

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    Weil eine positive Bestimmung des Begriffs der Menschenwürde als „letztlich nicht fassbares Eigentliches des Menschseins“ (2) schwer zu fallen scheint, ohne naturrechtlich oder metaphysisch zu argumentieren oder sich mit anderen Schwierigkeiten konfrontiert zu sehen, ist (den Ansätzen von J. P. Müller (3) und A. Margalit4 folgend) mehr Klarheit über den Begriff „Menschenwürde“ zu erreichen, wenn man versucht, Menschenwürde von Verletzungen der Menschenwürde her zu verstehen, z. B. von vollumfänglicher Instrumentalisierung von Menschen, von Verkauf und Versklavung von Menschen, von heteronomer Verfügung über ihre Existenz, … J. P. Müller schränkt in diesem Sinne sein eben erwähntes Verständnis insofern ein, als es dabei nicht „um ein als Norm verfügbares essentialistisches Wissen über das, was den Menschen ausmachen soll“ (5), geht und es sich nicht um eine „Garantie eines bestimmten objektiven Menschenbildes“ (6) handelt. Müller hält fest: „Würde ‚existiert’ nicht ausserhalb der Wertschätzung, die wir konkret einander schulden, einander zuerkennen oder verweigern. Würde realisiert sich in menschlichen Akten der Anerkennung oder wird vernichtet in Erniedrigung und Demütigung. Die Menschenwürde gewinnt ihre Konturen erst in der Anerkennung, im Geltenlassen der Einmaligkeit und jeweiligen Besonderheit menschlicher Existenz, in der Lebenspraxis von Menschen, die sich gegenseitig in ihrer Würde respektieren.“ (7) Zum einen gehe ich – im Unterschied zu Müller – nicht davon aus, dass Menschenwürde „vernichtet“ werden kann. Zum anderen würde ich deutlich machen, dass ich Menschenwürde nicht als Ergebnis intersubjektiver Vereinbarungen verstehe, sondern, noch konsequenter von der Verweigerung her denkend, als „Gegenstand vorgängiger Anerkennung“ (8), die sich in der Unterbindung ihrer Negation realisiert, betrachte. Damit wird die Möglichkeit ausgeschlossen, dass im Falle von Zuerkennung als Resultat von intersubjektiven Vereinbarungen, analog auch eine Verweigerung oder Aberkennung beschlossen werden könnte.


    Menschenwürde kann folglich so verstanden werden, dass sie nicht von vornherein gewährleistet ist, dass sie keine substantielle Entität darstellt und nicht auf ein definiertes Menschenbild zurückgeht, das auf einem erreichten Verständnis des Wesens des Menschen beruht. Menschenwürde wird im Unterschied zur naturrechtlichen Tradition nicht als ein vorgegebener Naturzustand, sondern als ein Gegenstand des Sollens verstanden. Menschenwürde stellt so gleichzeitig einen Anspruch und eine Aufgabe dar, die den einzelnen Menschen in einer wechselseitigen Beziehung zu allen Menschen bzw. alle anderen Menschen gegenüber ihm zur Verantwortung zieht. Menschenwürde wird so in ihrer Dynamik gedacht; sie kann nicht besessen, muss aber deshalb geschützt werden. In Diskussion mit G. Virt (9) und in Anlehnung an Kants Kategorischen Imperativ müssen Verletzungen der Menschenwürde als Nichtrespektierung des Menschen, als Selbstzweck und aufgrund seiner Unverfügbarkeit unterlassen werden. Sie sind nicht Gegenstand einer ethischen Güterabwägung oder verhandelbar wie Werte oder Güter, sondern die Notwendigkeit ihrer Unterlassung ist deren Voraussetzung.


    Ich verweise also auf die Negation der Menschenwürde, durch die sich einem vor allem der Gehalt der Menschenwürde erschliesst. So gelingt es erstens, den naturrechtlichen Weg und andere Schwierigkeiten zu vermeiden, zweitens die Komplexität des Menschenwürdebegriffs deutlich zu machen und einem voreiligen und zirkulären Verständnis zu entkommen und drittens das Potential der Negation für das Erfassen des Begriffes hervorzuheben. Viertens wird so der ursprünglich statuslastige Würdebegriff – Würde im Sinne von sozialer Ehre in hierarchisch strukturierten Gesellschaften traditionaler Natur (10) – konsequent von diesem Erbe befreit, um für die Gleichheit stehen zu können, indem nicht eine neue Form von Voraussetzungen und Bedingungen als Ersatz für traditionelle Statusgründe eingeführt werden muss.

      

    Quellen:

    1. Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine gekürzte Fassung von P. G. Kirchschläger, Wie können Menschenrechte begründet werden? Ein für religiöse und säkulare Menschenrechtskonzeptionen anschlussfähiger Ansatz, ReligionsRecht im Dialog Bd. 15, Münster 2013, 41-44.

    2. Müller J. P., Grundrechte in der Schweiz im Rahmen der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK, Bern 1999, 2.

    3. Vgl. ebda. 5.

    4. Vgl. Margalit A., The Decent Society, Cambridge 1998.

    5. Müller J. P., Grundrechte in der Schweiz im Rahmen der Bundesverfassung von 1999, der UNO-Pakte und der EMRK, Bern 1999, 4.

    6. Ebda.

    7. Ebda.

    8. Bielefeldt H., Menschenwürde. Der Grund der Menschenrechte, Berlin 2008, 19.

    9. Vgl. Virt G., Damit Menschsein Zukunft hat. Theologische Ethik im Einsatz für eine humane Gesellschaft, hg. v. Marschütz G./Prüller-Jagenteufel G. M., Würzburg 2007, 86-89.

    10. So auch Habermas, Konzept 26.