Wer sind wir?

Wer sind wir? Dies, denke ich, ist die Frage, die wir uns als erste stellen, wenn wir über den Menschen zu reden beginnen. Doch wenn wir so fragen, stehen wir auch schon vor der ersten Schwierigkeit: Wen rechnen wir überhaupt zu diesem „Wir“?

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    „Wir“ kann heißen: „wir als Angehörige dieses Clans“, „als Angehörige dieser Rasse“, „als Bewohner dieses Kontinents“ bis hin zu: „wir als die Sterblichen gegenüber den unsterblichen Göttern“. Es gibt keine Grenzen, die hier schon irgendwo gezogen wären. Dies wird uns bewusst, wenn wir einen kleinen Kulturvergleich anstellen. Es gibt Sprachen, in denen gewisse Tiere ausdrücklich in die Gruppe oder Klasse der Menschen einbezogen werden, und es gibt umgekehrt Sprachen, in denen der Ausdruck „Mensch“ dazu dient, die Angehörigen des eigenen Stammes von den Angehörigen anderer Stämme abzugrenzen. Dies gilt nicht nur für Frühstadien des Denkens, sondern auch für Hochkulturen. Beispielhaft dafür ist etwa das Fehlen des uns vertrauten Begriffs „Mensch“ (oder eines Äquivalents) in der klassischen indischen Philosophie.

    Nach der grundlegenden Auffassung des Satapatha-Brahmana ist der Mensch eine der fünf Untergruppen der domestizierten Tiere. Was ihn von den anderen Gruppen, den Kühen, Pferden, Ziegen und Schafen, allenfalls auszeichnet, ist seine Fähigkeit, Opfer zu erbringen. Diese Auszeichnung wird an sich noch verschärft, sobald die Lehre von Wiedergeburt und Erlösung allgemeine Annahme findet. Es gibt „nichts Höheres als den Menschen“, weil er allein die Möglichkeit hat, sein Karma aufzuheben und sich vom Rad der Wiedergeburten zu befreien. Aber auch dieses soteriologische Privileg hat nicht dazu geführt, den Menschen als Menschen von den übrigen Geschöpfen abzuheben.

    Dies vor allem aus zwei Gründen:

    1. Die menschliche Existenz ist nur eine der vielen möglichen Rollen, die wir als dramatische Personen auf unserem Umschwung des Seins (samsara) zu spielen haben. Was befreit werden muss, ist nicht der Mensch, sondern das Selbst im Menschen.
    2. Der Weg zur Erlösung steht nicht allen Menschen, sondern nur bestimmten Kasten und Klassen offen.

    Wichtiger als alles, was die Menschen eint, ist daher das Interesse an dem, was sie trennt. Die vier Kasten gelten als genuine Spezies, von einander ebenso verschieden wie Löwen, Elefanten und andere biologische Arten.

    Was uns die Geschichte des Begriffs „Mensch“ letztlich lehrt, ist vor allem dies: „Mensch“ heisst jeder, der aus demselben Stoff gemacht ist, aus dem der Sprechende selbst gemacht zu sein glaubt. Die entscheidende anthropologische Frage lautet darum schlicht: Aus welchem Stoff denn sind wir gemacht? Da uns dies nicht an die Stirn geschrieben ist, hat das, was am Ende als sogenannte Wesenseigenschaft des Menschen genannt wird, als Eigenschaft genommen, einen recht dubiosen Charakter. Die sogenannte Eigenschaft sagt weniger, was an uns ist, sondern weit mehr, was wir gerne an uns sehen möchten oder, besser noch, wie wir gerne gesehen werden möchten.

    Nehmen wir zwei der klassischen Topoi: der Mensch als das Wesen, das Vernunft hat, der Mensch als das Wesen, das einen freien Willen hat. Wie immer wir Vernunft oder freien Willen definieren mögen: es scheinen keine Eigenschaften zu sein, die uns auf dieselbe Weise zukommen wie die Eigenschaft „dick“ oder „dünn“, „langhaarig“ oder „blauäugig“ zu sein. Angesichts des Umstands, dass es durchaus berechtigte Zweifel daran geben kann, ob wir überhaupt als frei oder vernünftig in irgendeiner der definierten Bedeutungen bezeichnet werden können, stellt sich darum die nicht abwegige Frage, ob es sich hier überhaupt um einen Fall von Eigenschaftszuschreibung handle. Was aber sollte es denn sonst sein? Der Oxforder Rechtsphilosoph H. L. A. Hart hat schon in den sechziger Jahren eine Unterscheidung eingebracht, die uns hier vielleicht weiterhelfen könnte. Es gibt, wie Hart hervorhebt, eine Reihe von Ausdrücken, die, ihrer indikativischen Form zum Trotz, nicht dazu dienen, Dinge oder Personen zu beschreiben, sondern dazu, ihnen etwas zuzuschreiben: Titel, Rechte und Verantwortlichkeiten zum Beispiel. Wenn ich sage „Dies ist mein Buch“, gebe ich nicht eine Beschreibung des Buches, sondern erhebe den Anspruch, über das Buch verfügen zu dürfen. Und wenn ich sage, „Müller ist mein Stellvertreter“, treffe ich keine Feststellung über Müllers Eigenschaften, sondern ermächtige ihn, in meinem Namen gewisse Entscheidungen zu fällen. Hart bezeichnet solche Urteile im Unterschied zu den deskriptiven als askriptiv. Seine Paradigma sind die Urteile eines Richters, der als anerkannte Instanz auf Grund anerkannter Regeln Verantwortlichkeiten und Rechte zu- oder abspricht. Aber es gibt keinen Grund, sich auf diesen Bereich zu beschränken. Askriptive Urteile fällt auch, wer einen anderen als Freund oder als Autorität bezeichnet. Er sagt damit nichts über den anderen aus, sondern bekundet, dass der andere Anspruch erheben darf auf sein Wohlwollen oder seine Anerkennung.


    Ein besonders interessanter Fall – und damit kommen wir der Sache schon näher – sind die Urteile, mit denen wir jemanden als kompetent oder als chic bezeichnen. Als kompetent gilt bekanntlich, wer von jenen, die für kompetent erklärt wurden, für kompetent erklärt wird, und als chic, wer von jenen, die sich für chic halten, chic genannt wird. Vernunft oder Freiheit des Willens wären dann - falls man diese Ausdrücke analog versteht - nicht Eigenschaften, die man nachweisen oder auffinden könnte, sondern so etwas wie Titel, die wir uns selbst und anderen verleihen - Titel, die uns wichtig sind, auf die wir stolz sein können und die entsprechend unser Selbstwertgefühl heben. Denn selbstverständlich sollte es ein stolz machender Titel sein – gemäss Nietzsches Diktum: Was ist der Stolz des stolzesten Menschen gegenüber dem Stolz des Menschen, der sich in Natur und Welt als Mensch fühlt.


    Wenn uns etwas auszeichnet, ist es unser Erfindungsreichtum in der Kreation immer neuer solcher Askriptionen, mit denen wir uns als Mitglieder des exklusiven Clubs der Menschen auszuweisen versuchen. Die zahlreichen Homo-Ausdrücke zeugen von diesem Erfindungsreichtum: vom Homo Sapiens über den Homo Faber und den Homo Ludens bis hin zum Homo Viator und zum Homo Compensator. Mit solchen Formeln hat man begonnen längst schon, bevor es eine Disziplin der Anthropologie gab. Anthropologie kommt immer schon zu spät und sie ist – in der Geschichte der Philosophie – ja selber auch eine höchst junge Disziplin. Der Begriff taucht erst im 16. Jahrhundert erstmals auf und die volle Entfaltung der Anthropologie als Disziplin fällt – sattelzeitkonform – in die Mitte des 18. Jahrhunderts. Ihr Hauptgeschäft jedoch scheint die Suche zu sein nach dem, was wir uns wechselseitig an mehr oder weniger Ehrenhaftem nachreden können. In dieser Beziehung hat sich „Anthropologie“ nicht allzu weit zu entfernen von der ursprünglichen griechischen Bedeutung von „anthropologos“, der, so jedenfalls bei Aristoteles, einen Menschen bezeichnet, der sein Leben damit verbringt, über andere Menschen Geschichten - „gossip“, wie Ross dies ins Englische übersetzt - zu verbreiten.

    Welchen Titel wir uns gegenseitig verleihen, ist jedoch nicht ohne Belang, denn mit jedem Titel gehen Ansprüche einher, die unseren Willen, diesen Ansprüchen auch nachzukommen, nachhaltig bestimmen können. Als "Krone der Schöpfung" angesprochen zu werden, mag sichtlich andere Wirkung auf uns haben als den Titel "grössenwahnsinnig gewordene Raubaffenspezies" (Theodor Lessing) verliehen zu bekommen. Darum hüte man sich vor "falschen" Anthropologen. Sie könnten uns dazu verleiten, so zu werden wie wir gar nicht werden wollten...

     


    Weiterführende Literatur des Autors:

    - Art. „Mensch“, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 5 (1980), Sp. 1061-1092

    - Der Mensch – ein ‚Self-interpreting Animal’?, in: Urs Thurnherr (Hg.): Menschenbilder und Menschenbildung, Frankfurt M. 2005, S. 45-62