„Was ist der Mensch?“

Eine Erinnerung an den Schweizer Philosophen und Psychologen Wilhelm Keller (1909–1987)

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    Die „philosophische Anthropologie“ ist als philosophische Subdisziplin vorwiegend ein deutsches Produkt der Zwischenkriegszeit. Die bekanntesten Autoren sind wohl Helmuth Plessner (1892–1985), Max Scheler (1874–1928) und Arnold Gehlen (1904–1978). Es gab aber auch eine philosophische Anthropologie in der Schweiz. Wenn ich den Titel eines Aufsatzes von Hans Hoffmann, „Das Problem der Stilverspätung in der schweizerischen Kunst“,[1] auf die schweizerische Philosophie anwenden darf, so liesse sich auch von einem Problem der Stilverspätung in der schweizerischen Philosophie sprechen. Ein heute vergessenes Beispiel dafür sei hier eigens erwähnt: Herr Prof. Dr. phil. Wilhelm Keller. W. Keller studierte Philosophie bei Anna Tumarkin (1875–1951) und Carlo Sganzini (1881–1948) in Bern und bei Alexander Pfänder (1870–1941) und Richard Hönigswald (1875–1947) in München; er promovierte 1935 in Bern und habilitierte sich ebenda im Jahre 1944.

    Nach der Habilitation war er Stipendiat des von Paul Häberlin (1878–1960) geleiteten „Anthropologischen Instituts“, der „Stiftung Lucerna“ in Basel; 1947 wurde er als ausserordentlicher Professor für „Systematische Philosophie und Psychologie“ nach Zürich berufen, wo er nach seiner Ernennung zum ordentlichen Professor 1956 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 1974 lehrte. In den Jahren 1966-1968 übernahm er das Amt des Dekans der damaligen Philosophischen Fakultät I. Jürgen Habermas (*1929), der in Göttingen, Bonn und Zürich studierte, hat W. Keller als einen seiner Lehrer bezeichnet.[2]


    Im Jahre 1943 publizierte Keller in den „Beiheften zum Jahrbuch der Schweizerischen Philosophischen Gesellschaft“ eine Schrift „Vom Wesen des Menschen“, die sein Schüler Hans-Jürg Braun (1927–2012) dann nochmals unter dem Titel „Einführung in die Philosophische Anthropologie“ 1971 herausgegeben und mit einem Vorwort versehen hat.

    Das Buch ist in acht Kapitel gegliedert:

    I. „Einleitung: Das Problem“,

    II. „Grundlegung – Das Wesen des Seins und das menschliche Sein“,

    III. „Das menschliche Sein und das ‚Leben‘“,

    IV. „Trieb, Gegenstandwelt und Sprache“,

    V. „Das Verhalten als Handlung“,

    VI. „Die Grundsituationen – Ökonomische und ethische Situation“,

    VII. „Die religiöse, ästhetische und theoretische Situation und der Sinn des Daseins“.

    Keller geht richtig von der Feststellung aus: „Es ist, wie wenn gleichsam die Antwort als eine selbstverständliche und einfach gelebte schon vorhanden wäre, lange bevor die Frage [nach dem Menschen] ausdrücklich gestellt wird“ (1971, S. 14).

    Die Antwort auf diese Frage sieht W.Keller dann insbesondere in der Beziehung des Menschen auf das Sein, das im Menschen zu sich selbst komme: „Das Sein kommt im Durchgang und im Vollzug durch ein selber schon Seiendes allererst zu sich selbst und ‚ist‘ erst auf diese Weise. Dies Seiende selbst aber ist das, was es ist, und leistet das, was es leistet – und dazu gehört auch die Seinsfrage – seinerseits gerade als der allererst stiftende Vollzug dessen, was da ineins gefragt ist: des Sein“ (1971, 46).

    Das Buch ist offensichtlich einerseits M. Heidegger (1889–1976) verpflichtet und andererseits ein Sekundogenitur der deutschen philosophischen Anthropologie H. Plessners, M. Schelers und A. Gehlens: Zum Beispiel findet sich das Uexküll’sche Beispiel von der Zecke, in der die „Merkwelt“ mit der „Wirkwelt“ zusammenfallen, bereits bei Gehlen (1904–1974) in „Der Mensch“ (1940, 1978, S. 73–74) und wird dann wieder von Keller aufgenommen (1943, 1971, S. 62).

    Für den damaligen Zeitgeist, welcher der Philosophie einen höheren Stellenwert zuschrieb, als sie ihn heute hat, sprechen auch die folgenden Worte Kellers: „Vielmehr muss uns ein feierlicher Eifer und Ernst erfüllen, wenn wir nun daran gehen, mit unseren schwachen Kräften nach den letzten Wurzeln zu suchen und uns dabei sagen dürfen, wir seien damit auf unsere Weise und mit unserem Anteil in das Gespräch eingetreten, das über Jahrtausende hin die erlesensten Geister geführt haben“ (1971, S. 36). Zum damaligen Stil gehören die zahlreichen Rilke-Zitate (S. 84–86, 88), aber auch Formulierungen wie die folgende: „Dieses Sein [des Menschen] ist gar nichts anderes als das Sich – aus – ihm – her – zu – sich – selbst – Bringen dieses Seins“ (1943, S. 57), – eine Formulierung, die schon damals dem Rezensenten der National-Zeitung M. Sch.[3] (Nr. 145/26.3.44) künstlich erschien.

    Der Verfasser dieser Zeilen hat wohl als einer der letzten bei W. Keller im Jahre 1974 mit einer Lizentiatsarbeit „Freges Begriffsschrift und Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus“ abgeschlossen, ein Thema, das Wilhelm Keller allerdings ferne lag. So schreibt Keller in einem Brief an den Verfasser vom 20. August 1974: „[Wittgensteins] gewiss staunenswerte Anstrengung im TLP erscheint mir in ihrem systematischen Gehalt doch eben als eine rein tautologische Explikation auf dem Grund einer dogmatischen Grundsetzung“ – eine Analyse, die wohl zutreffend ist. Allerdings bezeichnet er den TLP ebenfalls als „Abdankung der Metaphysik“ und „Meuchelmord an der Philosophie“ (ebd.). Offensichtlich war Keller, wie er selber schrieb, kein „Vertreter des Neupositivismus“, sondern vielmehr Vertreter einer von Heidegger inspirierten philosophischen Anthropologie.

    Ich habe ihn – neben dem Privatdozenten und Titularprofessor Erich Brock (1889–1976) – über seine Philosophie und Psychologie hinaus als sehr angenehmen Menschen in Erinnerung; der grosse Altersunterschied war kein Hindernis für einen freundlichen und persönlichen Austausch wie auch die unterschiedlichen Auffassungen von der Philosophie den Jüngeren und Älteren nicht persönlich trennten. Kellers Hauptinteresse – die philosophische Anthropologie – hat denn auch eine Zukunft in der analytischen Philosophie bekommen, die W. Keller allerdings nicht mehr nachvollzogen hat.

    Das letzte Mal besuchte ich W. Keller im Jahre 1987 in seinem Haus an der Zürcherstr. 16 in Rapperswil SG. Es war mir damals nicht bewusst, dass das ein Abschied für immer werden sollte. In Erinnerung geblieben ist mir die hohe Bücherwand, das Liegebett, der Stapel von Büchern auf dem Schreibtisch, die Keller noch zu rezensieren plante, die liebevolle Erwähnung seines „Gütchens“ in der Toskana mit den Reben, aber auch die Bemerkung, dass eine Privatdozentur in Philosophie einem „Opfergang“ gleich käme.

    Keller hat wie übrigens der damalige Privatdozent und Titularprofessor Erich Brock (1889–1976) seinen Nachlass der Zentralbibliothek der Universität Zürich vermacht, wo er jetzt in wohlgeordneter Form einzusehen ist. Er enthält u. a. neben Kellers Vorlesungsnachschriften von R. Hönigswald und A. Pfänder nicht zuletzt einen umfangreichen und bisher unausgewerteten Briefwechsel, der noch einige Entdeckungen birgt:

    http://www.zb.uzh.ch/Medien/spezialsammlungen/handschriften/nachlaesse/kellerwilhelm.pdf


    [1] Anzeiger für schweizerische Altertumskunde 40, 1938, 201–211. Hervorhebung vom Verfasser.

    [2] Vgl. Müller-Doohm, Stefan: Jürgen Habermas. Eine Biographie, Berlin 2014, 60.

    [3] Der Nachname ist mir unbekannt geblieben.